„Was ich tat, tat ich, um den Fortbestand dessen zu sichern, das wir einst erschufen“, verkündete Odin. „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen. Wir haben gemeinsam darüber entschieden und waren uns einig, dass es geschehen muss.“
„Mit gemeinsam meinst du dich, Gefjon, Balder und Loki “, grunzte Vidar mit offenem Vorwurf. „Den Rest von uns hast du bei deiner Entscheidung außer Acht gelassen.“
Odins Blick verdunkelte sich. „Euch über die Zukunft zu unterrichten, wäre falsch gewesen. Gefjon hingegen wusste ebenso wie ich um die Dinge, die eintreten würden. Balder hatte ein Recht darauf, sein Schicksal zu erfahren. Um dieses zu erfüllen, brauchte ich Lokis Hilfe, nur deshalb weihten wir ihn ein.“
Heimdall schnaufte. „Natürlich hast du ihn gewählt. Nur Loki konnte so niederträchtig sein, Hödur, einen Blinden, ins Verderben zu stoßen! Du hast deinen eigenen Sohn verraten – zwei von ihnen!“
„Es ist vorausgesagt, dass Hödur und Balder am Ende der Welt aus dem Totenreich zurückkehren und ein neues Midgard anführen. Es war notwendig.“
„Also hast du nur ihre Bestimmung erfüllt“, brummte Tyr sarkastisch.
Odin betrachtete den Kriegsgott mit eisigem Blick. „So ist es.“
Thor warf das Hühnerbein, an dem er kaute, erzürnt auf seinen Teller. „Wie konntest du nur? Du hast Balders Tod herbeigeführt und du hast zugelassen, dass Unschuldige dafür bezahlen!“
Wal-Freya nickte beipflichtend. Sie blickte zu Gefjon. „Was hat dich dazu bewegt, dabei mitzumachen? Als wäre das nicht schlimm genug, hast du dich all die Jahre in Schweigen darüber gehüllt!“
„Wir dachten, es sei das Richtige“, rechtfertigte sich Gefjon.
Thea betrachtete den obersten der Götter. Wie so oft fühlte sie sich klein und unbehaglich in seiner Nähe. Er hatte viele Dinge getan, die ihr Angst machten. Die Asen schoben Loki oft die Schuld für allerlei Dinge in die Schuhe, aber ihrer Meinung nach war der Allvater genauso unberechenbar wie der Feuergott selbst. Seinen Sohn Wali hatte er mit der Riesin Rind gegen deren Willen gezeugt, da es vorhergesagt war, dass nur sie ihm das Kind gebären würde, das Balders Tod rächte. Odins Beteiligung am Tod des Lichtgotts setzte Lokis Bestreben nach einem anderen Schicksal in ein völlig neues Licht. Er hatte nur getan, was Odin von ihm verlangte und bitter für seine Treue bezahlt. Der Zorn, den ihm die anderen entgegenbrachten, war nicht gerechtfertigt. Seit dem Beginn ihrer Reise war es das Ziel der Asen gewesen, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Doch nicht Loki hatte zuerst in das Gefüge der Welt eingegriffen und die Zukunft verändert, es war Odin gewesen! Thea hatte ihren Verdacht schon einmal geäußert, nun zeigte es sich immer deutlicher.
Mithilfe der Gedankensprache nahm sie Kontakt zur Walküre auf: „Er hat alles gestanden. Ich habe es dir in Jötunheim gesagt: Odin hat damit angefangen, alles durcheinanderzubringen. Wenn er sich nicht die Zukunft hätte voraussagen lassen, wäre all das nicht geschehen. Er hätte Fenrir nicht gefesselt und er hätte nicht gewusst, dass Balder sterben würde. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Womöglich würde Balder noch leben!“
„Die Nornen legen unser aller Schicksal mit unserer Geburt fest, Thea. Wann begreifst du das endlich?“ , erwiderte Wal-Freya.
„Du versuchst doch auch in das Schicksal einzugreifen. Zuletzt mit unserem Vorhaben Balder aus Hel zu holen“ , erinnerte Thea.
„Ich wollte die Dinge nur in Ordnung bringen, indem wir die Weissagungen wieder wahrmachen. Nur weil wir Loki keinen Einhalt gebieten können, habe ich mich auf die Sache in Hel eingelassen, aus keinem anderen Grund.“
„Verstehst du nicht? Odin hat lange vor alledem hier versucht Ragnarök zu verhindern. Damit hat er es selbst vorangetrieben.“
Die Wanin nickte. „Da es vorausgesagt war, ist alles gekommen, wie es kommen sollte. Loki hingegen ist nicht an seinem Platz. Er wandelt frei durch die Welten und schmiedet Pläne gegen uns. Ich will, dass sich mein Schicksal erfüllt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Loki hat die Ordnung durcheinandergebracht. Ich weigere mich, das zu akzeptieren!“
Mutig erhob sich Thea. „Odin, Frigg, ihr alle, bitte hört mich an! Vielleicht kann ich das große Gefüge der Welt nicht verstehen. Ich bin nur ein Mensch. Ich begreife nicht, warum ein Vater seinen Sohn opfert, um dessen Schicksal zu erfüllen, obwohl er damit all das auslöst, was wir jetzt verhindern wollen. Ihr habt mich vor langer Zeit aufgesucht, damit ich Kyndill für euch finde und dafür sorge, dass Loki Ragnarök nicht schneller über die Welt bringt, als es vorherbestimmt ist. Euer Ziel war es stets, ihn wieder an seinen Platz zu bringen. Dann kam Fenrir frei. Wir haben ihn vergebens versucht zu fangen. Als letzten Ausweg sind wir nach Hel aufgebrochen, um Balder zu befreien – wir sind gescheitert. Wir haben alles getan, um Ragnarök zu verhindern und die Fehler der Vergangenheit zu revidieren. Doch es scheint unmöglich. Loki ist uns stets einen Schritt voraus. Aber nicht er hat Ragnarök heraufbeschworen, du warst es, Odin. Durch deine Handlungen ist es so weit gekommen. Indem du den Wolf gefesselt hast, brachtest du ihn gegen dich auf. Da du Balders Tod zugelassen hast, wurde Ragnarök eingeläutet. Wäre all das nicht geschehen, würde Loki wahrscheinlich noch immer an eurer Tafel sitzen und Scherze mit euch treiben. Alle Versuche, das wieder gerade zu biegen, sind gescheitert. Vielleicht ist es an der Zeit, die Dinge einfach geschehen zu lassen, sie sind doch ohnehin von den Nornen bestimmt ...“
Bei ihren letzten Worten schnappten alle Anwesenden gleichzeitig nach Luft. Tyr sprang auf, ebenso Thor, Gefjon und Saga. Der Tisch war mit einem Mal erfüllt von aufgebrachten Stimmengewirr. Sif packte ihren Mann und zog ihn zurück auf seinen Stuhl. Während Juli Thea entgeistert anblickte, traf Wal-Freyas Blick sie kalt und unerbittlich.
„Was erlaubst du dir, Thea?“, knirschte Wal-Freya.
Es war Frigg, die nachdrücklich Gehör forderte und die Versammelten zum Schweigen brachte. Gebannt richteten sich alle Augen auf sie, auch die von Thea.
„Bevor ihr das Mädchen verurteilt, solltet ihr wissen, dass ich ihrer Meinung bin.“ Sie hob energisch die Hand, als erneut Stimmen laut wurden. „Odin hat die Dinge vorangetrieben. Es war ein schrecklicher Fehler zu glauben, mit der Erfüllung von Balders Schicksal würde er helfen das Fortbestehen seiner Schöpfung zu sichern. Statt all dies in Gang zu setzen, hätte er mich nur bei dem Versuch Balder unsterblich zu machen, aufhalten müssen. Er hat es nicht getan.“ Ihr Blick traf auf Gefjon. Verbitterung war aus ihm zu lesen. „Auch ich habe vorausgesehen, dass es Balder nicht helfen wird. Doch das Wissen um die Zukunft zu gebrauchen, ist falsch. Auf diese Weise geschehen Dinge schneller, oder sie tragen dazu bei, dass man das Schicksal herausfordert und es aus den Fugen gerät. Ihr werft all dies Loki vor und habt doch genauso gehandelt. Unsere Bestimmung wurde verändert, weil die Sehenden ihr Wissen nicht für sich behielten.“ Sie ließ den Blick über jeden Einzelnen schweifen. „Doch die Dinge sind geschehen und es führt zu nichts, wenn wir nun nach einem Schuldigen suchen ...“ Ihre Augen blieben auf Thea haften. „Oder wir aufgeben, die Ordnung wieder herzustellen.“
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