»Sofort ... mein Vater ... Notfall!«
Oh oh ... Das klang nicht gut. »Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment«, bat ich Narima und Thias. Alle Räume waren nicht nur über die Gänge aus zu erreichen, sondern auch untereinander verbunden. Daher trat ich an die Durchgangstür, wo ich lauschend stehen blieb.
»Schnell!«, die Besitzerin der schrillen Stimme schien vollkommen hysterisch zu sein und meine medizinische Neugier kämpfte mit der Tatsache, dass wir uns in die Fälle der anderen Ärzte eigentlich nicht einzumischen hatten.
Was aber, wenn nebenan wirklich Not am Mann war und meine Hilfe nur von Vorteil sein konnte? Das Gekreische klang nicht gut, also bat ich Atlantis, die Tür zu öffnen, und betrat das Nebenzimmer. Verblüfft blieb ich stehen und starrte auf das Bild, das sich mir bot. Vor mir befand sich mitnichten eine schwer verletzte Person, sondern eine junge Frau mit einem Spiegel in der Hand.
Blondes Haar, lange Beine, symmetrische Gesichtszüge und riesige blaue Augen, die mich nun puppenhaft anblinzelten. Am Schreibtisch saß meine Kollegin Corelia und ein Herr mittleren Alters, offenbar der eigentliche Patient. Beide sahen irritiert zwischen mir und der jungen Frau, die mir irgendwie bekannt vorkam, hin und her.
»Was ist passiert?«, wandte ich mich an Corelia. »Es klang nach einem Notfall?«
»Es ist auch ein Notfall, aber diese impotente Person da«, mit dem Spiegel wurde in Richtung meiner Kollegin gefuchtelt, »will mir nicht helfen!«
Impotent?
»Elizabeth ...« Corelia seufzte. »Ein Pickel ist kein Notfall!«
Elizabeth? Ich betrachtete die junge Frau etwas genauer. Jetzt wusste ich, woher sie mir bekannt vorkam. Vor mir stand nicht nur die Verlobte von, wie Thera sagen würde, Mr. hotter als hot Corvin, sondern auch gleichzeitig die Tochter von Vorstandsmitglied Calvin. Sie war in Tränen aufgelöst. »Wie ich bereits sagte, so etwas Impotentes ist mir noch nie über den Weg gelaufen!«, jammerte sie in meine Richtung. »Sie will mir einfach nicht helfen. Dabei ist das da ...«, sie deutete auf einen kleinen Pickel an ihrem Kinn, »eine Katastrophe! Morgen Abend findet ein Fest statt und ich kann unmöglich so verunstaltet dort erscheinen!«
Impotent??? Oh. Mein. Gott.
»Hören sie, Elizabeth ...«, mischte ich mich ein und verbiss mir mühsam das Grinsen, während ich Corelia mit einer Handbewegung bedeutete, dass ich diesen Fall übernehmen würde. Ein erleichtertes Lächeln erschien auf deren Gesicht. »Wenn schon, dann ist meine Kollegin impertinent, also unverschämt, aber sie ist ganz bestimmt nicht impotent. Impotent bedeutet ...«
Ich begann damit, ihr unter Zuhilfenahme von medizinischen Fachbegriffen den Unterschied zu erklären. Meine Wortwahl überforderte Elizabeths Horizont sichtlich, aber mit den komplizierten Begriffen um mich zu schmeißen half mir dabei, nicht loszuprusten. Calvins Tochter auszulachen wäre vermutlich der leichteste Weg, um in Zukunft nur noch Unterkünfte reinigen zu dürfen, statt den Bewohnern der Station zu helfen.
»Atlantis, bitte die Tür zum Flur öffnen. Welcher Behandlungsraum ist zur Zeit frei?«
»Tür wird geöffnet ... Behandlungsraum 3 ist frei. Soll ich dort ebenfalls öffnen?«
»Bestätigt.«
Ich nahm Elizabeth am Arm und dirigierte sie mit sanftem Druck durch den Flur in das leerstehende Zimmer, das mir der Computer bereits zugänglich gemacht hatte. »Setzen sie sich«, bat ich Elizabeth.
»Atlantis, Rezeptanweisung. Ich brauche fünfzig Gramm Heilerde und eine zehn Gramm-Tube Silbersalbe«, orderte ich schon einmal, was ich ihr gleich verschreiben würde.
»Rezeptanweisung fünfzig Gramm Heilerde und zehn Gramm Silbersalbe«, wiederholte der Computer. »Die gewünschten Produkte können in fünf Minuten unter Anweisungsnummer 12 an der Medikamentenausgabe abgeholt werden.«
»Und sie hören mir bitte jetzt einmal ganz genau zu«, wandte ich mich an Elizabeth und entwand ihr den Spiegel. Ich legte ihn auf den Tisch, hob meine Hand und reckte den Daumen empor. »Erstens: Heute Abend gönnen sie ihrem Gesicht ein Dampfbad. Dampf öffnet die Poren der Haut und bereitet sie für die anschließende Pflege vor.« Ein zweiter Finger gesellte sich zu dem Daumen. »Zweitens: Eine Maske aus der Heilerde, die sie gleich erhalten werden. Mindestens eine Stunde einwirken lassen und danach sorgfältig abwaschen.«
Dritter Finger. »Drittens: Den Pickel mit der Silbersalbe großzügig bedecken, das kolloidale Silber in der Creme klärt unreine Haut.« Vierter Finger. »Viertens: Make-up zum Abdecken nicht mit dem Finger auftragen, sondern mit einem Wattestäbchen. Tupfen, nicht wischen. Für den Rest des Gesichts sauberes Schwämmchen benutzen.« Jetzt hielt ich die ganze Hand hoch. »Fünftens: keinen Alkohol. Er wirkt sich negativ auf die Durchblutung aus und fördert somit die Bildung von Hautunreinheiten.«
Eigentlich lag es mir nicht, jemandem eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen, aber mir war klar, dass ich Elizabeth so am schnellsten loswurde und mich wieder meinen eigentlichen Patienten widmen konnte. »Verstanden?«
»Ja. Wenigstens eine Person in diesem Laden, die meine Probleme ernst nimmt!« Elizabeth wiederholte meine Anweisungen wie ein Mantra, während sie heftig nickte.
Ich biss mir fest auf die Lippe und setzte ein neutrales Lächeln auf. »Wunderbar. Die von mir genannten Produkte bekommen sie jetzt vorn an der Medikamentenausgabe«, sagte ich und schob sie in Richtung Tür. »Die Anweisungsnummer lautet 12. Die Medikamente sind im Übrigen nicht verschreibungspflichtig. Sie können diese also jederzeit bei Atlantis zur Produktion anweisen, sollte es nötig sein. Atlantis, Tür öffnen!«
»Tür wird geöffnet.«
»Danke, Med-Op. Nicht auszudenken, was ich ohne Sie getan hätte! Es wäre zu schrecklich, beim morgigen Fest so entstellt die Gäste an Corvins Seite unterhalten zu müssen«, plapperte Elizabeth weiter, während sie das Behandlungszimmer verließ.
Mir kam in den Sinn, dass es nur ihr Aussehen sein konnte, das die Aufmerksamkeit vom Sohn des Stationsleiters erregt hatte, denn offensichtlich diente ihr Kopf ansonsten nur der Hohlraumversiegelung. Ob es Frauen wie Elizabeth waren, die dafür gesorgt hatten, dass es Schwangerschaftsselektion gab? »Ich bin sicher, Corvin wird es zu schätzen wissen«, erwiderte ich und folgte ihr hinaus auf den Flur.
Schnellen Schrittes kehrte ich dann in den Raum zurück, in dem meine eigentlichen Patienten noch immer auf mich warteten.
»Entschuldigen sie die Unterbrechung, es gab einen kleinen Notfall«, erklärte ich den beiden mit einem neutralen Lächeln und setzte mich wieder an den Schreibtisch. »Wie ich bereits sagte, entfernen wir heute das Implantat zur Verhütung, damit sie beide zum vergnüglichen Teil der Zeugungsphase übergehen können.«
»Atlantis, bitte prüfe die Genehmigung zur Auswahl von Festivitätsbekleidung für Bewohnerin 27867«, sprudelte mein bester Freund hervor, noch bevor er vollständig in meinem Zimmer angekommen war. Mit einem leisen Zischen schloss sich die Tür hinter ihm. Wieder einmal standen ihm die dunkelblonden Haare in alle Richtungen vom Kopf ab. Das ließ seine Frisur so wirken, als habe er sich keine Bürste mehr leisten können, weil seine Credits für Massen an Gel draufgegangen waren. Out of Bed-Style nannte Aaron das. Zu faul zum Kämmen nannte ich es.
»Die Bewohnerin 27867 hat die Erlaubnis für Sonderbekleidung aufgrund der Einladung durch Stufe 1 am morgigen Abend«, schnarrte Atlantis schneller aus den Lautsprechern, als ich meinen Mund auf- und wieder zuklappen konnte und ich ließ mich mit einem frustrierten Schnaufen auf das Bett plumpsen.
Ich würde Thera nicht umbringen. Nein. Ich würde sie langsam umbringen! Es war eindeutig auf ihren Mist gewachsen, dass Aaron sich jetzt vor dem in der Wand eingelassenen Monitor zu meiner Linken aufbaute und sich in die virtuelle Kleiderkammer einloggte. Mit ein paar schnellen Wischbewegungen navigierte er sich durch die einzelnen Teile an Bekleidung, die das System mir für den morgigen Abend zur Verfügung stellte.
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