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Man wusste schon einiges über die Neue: »West-Hilda vom Feinsten«. Oder glaubte zu wissen.
Die Neue mit dem kalbgroßen Köter. Zugewandert aus westlichen Welten. Hochgewachsen, mit kräftig beleibtem Körper in schicken Klamotten und oft breit berandetem Hut. Bayrisch-germanisches Kampfweib, spottete Božena, Isolde setzte noch einen drauf: Tonne mit’m Wagenrad. Dezent bemalt das Gesicht und barbymäßig drapiert die langen, mit grauweißen Strähnen durchsetzten Schwarzhaare, die sie für ihr Alter zu lang trug, war man sich einig. Die Hiesigen begnügten sich − außer Caminchen − mit der praktischen Ballfrisur; Euline, weiß mit bläulichem Schimmer, stets frisch vom Friseur geplustert. Auch Isolde ließ sich ab und zu »ver-jugendlichen« aus wechselnden Farbtuben.
Klatschgespräch: Westhildas Stupsnase passt eigentlich nicht zu der Riesengestalt, krittelt Euline. Nicht wahr?!
Genau, bestätigt Isolde. Manchmal stiert sie so in die Gegend, als wär alles um sie drumrum nur Luft. Erzählt doch mal weiter. Was wissen wir noch?
Also sie ist vergewaltigt worden nach dem Krieg äh... hier im Osten? Oder nee, ich glaub, nur ihre Mutter?
Der Russe hat sie mit Zucker bezahlt, nicht wahr?!
Genau, das hat sie Caminchen erzählt. Und die Mutter ist abgekr... ist gestorben? Und wie war sie rüber gekommen?
Die Großeltern im Schwarzwald haben die Waisenkinder aufgenommen, sie und den kleinen Bruder.
Nee, in Bayern?
Aufgenommen? Von wegen! empört sich Božena, die bis dahin geschwiegen hat. Das war doch wohl anders, wie ich gehört hab. Nur Hausfrau ist sie vermutlich gewesen. Und zweimal verheiratet war sie. Vom ersten geschieden... oder?
Keine Ahnung. Sie ist katholisch, da geht das Scheiden-Lassen nicht ganz so leicht. Das kriegen wir alles noch raus.
Und mit dem zweiten Mann gab’s krumme Sachen, hat Caminchen bisschen verplaudert. Irgendwie mit Geld war da was, nicht wahr?
Nee, Quatsch: mit ’ner anderen Frau.
Achtung, sie kommt mit Caminel und mit dem Hund. Jetzt Punkt, ihr Klatschtanten!
⸙
In Boženas Winzigwohnung, später beim Kaffee. Euline, nachdem sie die tränenden Augen betupft hat: Sag mal, Isolde, du suchst immer wieder nach einem Mann? Kaum zu schaffen, nicht wahr?! Die Passenden würden doch sicher Jüngere wollen.
Das muss doch kurios sein, antwortet Isolde in beleidigtem Ton, wenn die alten Kerle ihre schlappen Schwänze in die jungen Mädchen reinhängen lassen.
Oooch! empören sich alle. Isolde, wie sprichst du?
Und Božena mahnt: Ja, und mach endlich ’nen Punkt, definiere einen zur großen Liebe .
Höh, mal hatte ich einen, für den war ich die ganz große Liebe, hat er behauptet. Er wollte versinken in mir, nie wieder auftauchen. So was hat er gesäuselt in seiner Leidenschaft vor dem, na ihr wisst schon... Orgas-Schmuuus. – Nee, das geht nicht, hab ich gekontert. Wir müssen verschmelzen und ’n neuen Kern produziern. Aber das wollte er nicht, abgehauen ist er nach einem Jahr. So was Ähnliches ist mir mehrmals passiert. Darüber zu reden, hab ich kein’n Bock.
Aber warum musst du immer noch Männer anbaggern?
Isolde bürstet mit beiden Händen durch ihren Stoppel-Haarschnitt und richtet sich auf: Hehe, ich leide an mehrfach ungesättigt er Liebessehnsucht. Nur kein Neid, Božena!
Das sollte doch jeder für sich entscheiden, beschwichtigt Caminchen. Mein Enkel, der Steffen, der hat mir zwar klar gemacht, als ich noch nicht einmal 60 war, dass die… hm... diese Art Liebe nicht mehr für mich in Frage kommt.
D as Pfefferkuchen-Liebesherz:Oma, sagt mein Enkel zu mir, Oma, in deinem Alter kannst du doch nicht mehr beurteilen, was man heutzutage unter Liebe versteht.
Ich weiß aber noch, antworte ich, wie die kleinen Kinder gemacht werden.
Aber Oma, das ist Ssssex, das ist doch nicht Liebe.
Ach so, auch heutzutage? wundre ich mich. Zu meiner Zeit...
Also Oma, ich glaub dir ja, dass du damals zu deiner Zeit... Vielleicht weißt du es ja noch theoretisch. Aber die ganzen Gefühle, die wir heute haben!
Woraus entnimmst du, frage ich etwas gereizt, dass ich mich nicht mehr erinnre?
Na, Oma, wenn ich dich höre: Ich liebe Bienenwachs-Kerzen, ich liebe märkische Kiefern, ich liebe den 17-Uhr-Tee. Das ist doch keine Liebe im Sinne von wahrer Liebe.
Seh ich ein. Also wirst du mich in das Geheimnis einweihen, was heutzutag »wahre Liebe« bedeutet. Also?
Theoretisch kann ich’s dir nicht erklären. Das würdest du nicht verstehn, aber ich werd’s dir am Beispiel klarmachen: In meiner Klasse, Thomas, – der Große, Dickliche, der mit dem Stoppelschnitt, wie du immer sagst. Also, der ist richtig verliebt in Anette. Das weiß jeder, wirklich. – Wie? Ja also, der hält seit mindestens einem halben Jahr um ihre Hand an, wie das in euern alten Büchern so ausgedrückt wird... Ja, und... die Anette lässt ihn zappeln, sie weiß nicht richtig, will sie ihn, will sie ihn nicht? Und erstens: Er muss sich in Mathe verbessern. Und zweitens: Er muss sein Verhalten in Englisch verbessern. Und drittens, bis zum Nikolaus will sie sich entscheiden. Trotzdem, er gibt nicht auf, er liebt sie eben. – Warum? Naja, sie ist wirklich nicht schlecht, blaue Augen, schlank, schon ein bisschen Busen. Und sie ist immer nett, lustig, hilfsbereit. Wenn sie lacht, das steckt richtig an. Als wenn ein Tischtennis-Ball runterfällt und dann so ausklickert. Mir gefällt sie eigentlich auch. Einmal, als ich mit ihr zusammen in ein Buch reingeguckt habe und ihre Locken kitzelten mich am Ohr, da hat’s mich durchrieselt, ganz angenehm. Aber sie ist eben schon belegt.
Früher, sage ich, war so was geheim. Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand was weiß.. . Volkslied. Kennst du doch.
Nein, heute ist die ganze Klasse live dabei, erklärt er. Thomas sagt immer ganz laut: Anette, ich liebe dich, Anette, für dich tu ich alles, Anette du hast den schönsten, äh... na, du weißt schon, Oma. – Die andern? Naja, viele ärgern sie, die Mädchen fragen: Anette, was macht eure Liebesgeschichte? Aber besonders die Jungs: Anette, wann habt ihr den letzten Zungenkuss gemacht, Anette, habt ihr schon gebu..., na, du weißt schon, Oma. Dann wird sie ganz wütig und schreit: Lasst mich mit eurer Scheiß-Liebesgeschichte in Ruhe! Aber er gibt nicht auf, er liebt sie eben.
So, aha. Und hat sie sich nun zum Nikolaus entschieden? erkundige ich mich.
Ja. Abgesagt. – Er? Hat am nächsten Tag ’ne andre gefragt, die Sabine, ob sie mit ihm gehn will. Die hat sofort ja gesagt. Daraufhin schenkt er der am andern Tag ein riesiges Pfefferkuchen-Herz mit der Aufschrift: Ich liebe dich! Dann wieder am nächsten Tag hat Anette, seine wahre Liebe, im Unterricht unter der Bank irgend’ne Hausaufgabe abgeschrieben. Er hat’s gesehn und gepetzt. Das fanden wir auch ein bisschen fies, aber er erklärte später, dass es Liebes-Verzweiflung war. Daraufhin haben alle Mädchen aus der Klasse ihn beschimpft und ein Embargo beschlossen. Keiner darf mehr ein Wort mit ihm sprechen. Nie wieder. An dem Tag wurde es eingehalten, sogar von uns Jungen.
Am nächsten Tag bringt Sabine das Pfefferkuchenherz wieder mit, zerbricht es und gibt’s ihm zurück – schweigend, sieht ihn nicht dabei an. Er nimmt’s und – beißt ab. Die ganze Klasse guckt zu, wie er genüsslich speist, besonders wir Jungs. Schließlich fragt Erik: Krieg ich auch ’n Stück?
Ich auch! Ich auch! schreit bald alles durch’nander. Er verteilt, alle essen mit, auch Anette. Im Nu war’s weg. Und zum Schluss sagt er: Und ich liebe doch Anette.
Das also, frage ich meinen Enkel, ist wahre Liebe, meinst du? Versteh ich nicht.
Ja, Oma, antwortet er, und damit war die Belehrung für ihn beendet: Das ist heute viel komplizierter. Das kannst du eben nicht mehr verstehen. Aber musst du auch nicht. Lieb du mal die warmen Wollhemden und deine alten Zeiten. Und vor allem mich. – Das genügt für dein Alter.◄
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