Alle haben schweigend den kurzen Bericht über den so langen Lebensabschnitt der verstorbenen Freundin gehört.
Wir müssten alle unser Leben aufschreiben, sagt Caminchen.
Wenigstens erzählen könnten wir’s uns, auch wenn wir schon manches von’nander wissen, schlägt Božena vor. Und weil sie vor Neugierde brennt auf die Geheimnisse der Frau »Vom Feinsten«, nickt Isolde. Euline schweigt, beugt sich vor, damit niemand in ihren Augen erkennt, dass ihr der Vorschlag gar nicht gefällt. Weshilda starrt blicklos ins Leere.
Gut, abgemacht, freut Božena sich, beim nächsten Treff fangen wir an oder bei unserer Kur, da sitzen wir oft im gemeinsamen Stübchen zusammen. Wer eigentlich teilt mit wem das Zimmer? Weißt du noch, meine Caminel, wir beide einstmals im Internat, ach diese glückliche Zeit möcht ich noch einmal...
Caminchen muss aber mit mir, beeilt sich Euline, nicht wahr, ich brauche doch Hilfe, komm allein dort nicht klar.
Wieso nicht, du wirst doch noch laufen können mit deinem Rolly, empört sich Isolde, und zum Einstieg in Wannen und Schlammpack gibt’s medizinisches Personal.
Pasmotrim, beruhigt Caminchen. Sie ist unsre Älteste, also!
Wenn ich eine Bitte äußern darf? fragt Weshilda. Möglichst erzählen Sie hier, nicht bei der Kur, ich möcht Sie doch kennen lernen. Bin auch bereit, von meinem Leben, obwohl… hab die meisten Jahre am Kochtopf g’standen, um uns was zu schaffen, letztendlich umsonst, weil... Nein, erstmal vielleicht von Kindheit und Jugend. Wie ich g’lebt hab zwischen zwei Ländern und...
Fahr mit, mach eine Kurz-Schnupperkur! empfiehlt Isolde.
⸙
JORINGEL: Da bin sogar ich gespannt auf die West-Hilda und ihre Vita. Ich darf ja bis jetzt noch planlos belauschen, das vertraute Großmutterkränzchen umrauschen. Mit dem Bewerten anderer Hominiden lässt man mir Zeit. Paar Fragen hätte ich zwar zum hiesigen »himmlischen« Chaos – die vorüberschwebenden Schatten und Schemen von Blumen-Kelchen und Bienen-Schwärmen und Menschen-Gestalten und and’ren Tierbildern – sind sie noch Suchende oder schon fertig für ewiges Sein oder Nichtexistenz? Ein Krokodil fällt mir auf, das kommt so oft hier vorbei. Und wo führt es hin, das Ganze, das bunte verwirrende Treiben? Kein Fragen vorläufig, weiter das Dösen genießen und die Meinen betrachten mit ihren Freuden und Ängsten und Rätseln. Da, Božena:
⸙
An der offnen Balkontür der Miniwohnung sitzt Božena, die grauhaarige Seniorin mit dem stämmigen Körperbau. Sie genießt die März-Sonnenstrahlen, ein Moorkissen wärmt ihr das Steißbein, den PC hält sie auf ihren Knien. Über die Straße zum Kindergarten richtet sie ihren Blick. Die Kleinen sind schon hineinbefohlen, ja, das dauert, bis alle Händchen gewaschen, Tischlein gedeckt… Sie sieht vor dem inneren Auge die eigenen Urenkel im fernen Kanada. Wie alt sind die jetzt? Die Jüngste jetzt auch schon schulreif… Sie weint ein bisschen, ruft sich zur Ordnung: Ich sehnsüchtle wieder chaotisch ins Blaue hinein. Will-muss doch schreiben. Noch fünfzig Minuten bis Mittagstisch, oh, es duftet nach Braten. Ranklotz, Božena, mach dich ans Werk! Für den Nachmittag ist Altweiber-Kränzel geplant. Heut bei Isolde, wieder bin ich gespannt auf ihr Liebes-Treiben, obwohl ich’s nicht gutheißen kann. Also, was notier ich jetzt noch vormittags?
Sie blättert in ihren Texten früherer Jahre. Viel eng beschriebene Blätter liegen in einer Mappe.
Von Kind an wollte sie schreiben. Der Lebens-Wettlauf hatte den Wunsch verdrängt – Liebe, Familie, Freunde, Beruf. Aber jetzt in den Abschiedsjahren will sie endlich ein Buch zustande bringen. Fängt das Ersehnte nun endlich an? Der Witz fällt ihr ein, den Isolde neulich erzählte: Die Katholiken sagen − Mit der Zeugung beginnt das Leben. Die Protestanten: Mit der Geburt. − Wenn der Hund tot ist, meint der Rentner. Die Bäuerin: Wenn mein alter Esel im Grab liegt und ich aus dem Küchengefängnis raus bin.
D er Partner,mit dem man die Jahre verbrachte, den man umsorgen musste und immer bekochen, weil mittags im Bauch seine Ess-Uhr rasselte, kreischte und er dann hunger-wütete manchmal... Boženas lieber alter Esel, der... ach: immer nur Arbeit kannte für die Äcker und Ställe, erst Einzelbauer, dann Genossenschafts-Chef, schließlich auf dem Bezirksamt für Landwirtschaft. Ein schaffenswütiger Fleißmensch – wofür sie ihn liebte, auch wenn sie selbst zu kurz dabei kam, manchmal fluchte beim Zwiebeln-Schälen, Kohl-Schnippeln, Schnitzel-Panieren. Aus ihm hatten sie einen Sesselpforzer gemacht, und von Zeit zu Zeit quälte ihn nachts der Albtraum: Seine Pferde hatte er nicht versorgt, die Pferde mussten gefüttert werden, das schreckte ihn oft aus dem Schlaf. Und ich xantippig zu diesem Gefährten. Ein Meckerduett viel zu oft, wegen nichts. Trat sie jetzt ans Waschbecken, kam das Erinnern: Wie hast du hier rumgesaut, der Spiegel von deinem Zahngeputz ist schon wieder verschweint... – Du hast gestern genau so, und überhaupt… hick, hack, weshalb nur? Warum Rechthabe-Sucht, warum?◄
Weil meine Schreiblust niemals gestillt war, seufzt sie. Ach lieber Walter, die Kinder und Enkel sind fern und du liegst schon Jahre unter der Erde. ... Viel hat sie seitdem noch nicht… Ja: Du musst dein Leben ändern ! Jetzt im Heim, im »Betreuten Wohnen« wird endlich mehr Zeit sein, hofft sie. Beeile dich Božena, auch du steigst bald zum… Grab? Himmel? Orkus? Oder wirst wieder geboren? Joringels herrlich gesponnene Träume. Ich glaub zwar nicht dran, aber darüber müssten wir wieder mal reden in unserem Altweiber-Club, sonst quatschen sie oftmals bloß Schnick-Schnack. Ich muss vernünftige Themen erzwingen und die Erste bleiben an Oberfreundin Caminels Seite. Jetzt gibt’s noch mehr Konkurrenz, die »Dame« aus Westland mit dieser Angeber-Hündin. Ich werd mal demnächst skizzieren-notieren, wie sie unnahbar-starrblickend durch unsre Straßen stolziert. ... Und aber ich... über mich...
O h, meine Schreibsucht!Geschichten hab ich schon viele im Kasten. Wie aber kann ich sie spannungs-dramatisch zusammenflechten? Es fällt mir kein Plot ein. Und keine zündende Einstiegs-Idee, effektvoll und Neugier erweckend? So wie man ein Reisigbund aufflammen lässt, dann Holzscheite nach und nach auflegt, die wunderbar brennen, eins mit dem andern und eins nach dem andern und...? Oh, mein Gedächtnis, wo hatt’ ich das denn gelesen? … Ach, witzlos. Von Scheiterhaufen wollen die Heutigen lesen, wo Menschenfleisch brutzelt und Augäpfel platz... brrrr, schaurig-schön?! – Oder ein Krimi? Ja, Krimi ist Weltmacht. Mit blut-bebilderten Rätseln müsst es folglich beginnen, gruselig, grausig, entsetzlich, sonst würde es kaum einer lesen. ... Nein! Es war mir schon eklig genug, dass mein Walter fast jeden Abend die Film-Leichen in unser Wohnzimmer holte. ... Oder sollt ich die 100 vorhandenen Storys bündeln durch einen Blutsauger-Geist aus dem Jenseits? Die Sucht der Leserwelt füttern nach unklärbar mystisch Gespenstischem? Schuldbeladene, böse Seelen erfinden, die als Tollwut erkrankte Flattermaus-Wesen uns alle ins Dunkle ziehn woll’n zu Skeletten und faulendem Fleisch? Pfui Ekel, solch Vampir-Geplämper. … Man könnt in Geschlechts-Innereien wühlen wie diese jungschen Schreib-Hyster-Zicken? Da wird man gleich Super-Bestsellerin. – Nein, nein und abermals nein! Das sind keine Themen für mich, auch wenn Volk sich Gänsehaut wünscht und wohliges Kribbeln auf seinem Penis. ... Sollt ich etwa erzählen, womit sich Altweiber-Körper rumquälen? Die Hosen runter, die jenseits-modernen, ausgebattelten Liebestöter der Großmutter-Garde? Waschlapp-Geschichten, Coli-Bakter-Fantasien und die Angst beschreiben, ob der Darmausgang dicht hält?◄
Božena schüttelt energisch den Kopf. Blättert noch hier und da in den Seiten und spricht mit sich selbst, murmelnd und seufzend. Plötzlich holt sie tief Luft und lächelt begeistert: Ha, die Idee: Heureka – ich hab’s! Ja, Freundin im Jenseits, du hast mir schon oft zu guten Gedanken verholfen. Also umstülpen alles und nochmal von vorn. Und du wirst mir helfen, Joringel.
Читать дальше