„Unsere Mutter ist OK. Sie nimmt sich viel mehr Zeit für uns, als du für deine Söhne aufbringst," hat Florian neulich seine Mutter verteidigt. Jan hatte darauf keine Antwort. Und damit war das Thema erledigt.
Nachdenklich schaut Stefan seine Mutter an. 'Warum ist sie nur so ernst, immer so geschäftig?', denkt er. Bevor er aus dem Wagen steigt, gibt er Sandra einen flüchtigen Kuss. Das hat er schon seit Jahren nicht getan.
Früher war Sandra eher unbeschwert. Sie traf sich gern mit ihren Freunden, tanzte gern, und ein Open Air Konzert ließ sie selten aus. Mit 18 hatte sie Abitur gemacht, mit 22 hatte sie die Fachhochschule hinter sich, mit 24 trug sie einen Ehering und mit 25 war sie zum ersten mal Mutter. Seither wohnt sie in einem Reihenhaus am Stadtrand. Sie interessiert sich für fast alles, was das Leben lebenswert – oder auch unerträglich macht.
Von Politik wollte sie lange nichts wissen – bis sie von den Wut-Bürgern hörte. Sie wurde Mitglied bei den 'Piraten'. Doch ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht. Als offenkundig wurde, dass die bürgerlichen Freiheitsrechte klammheimlich weiter eingeschränkt wurden, und dass der amerikanische Geheimdienst sogar höchste Regierungs-Mitglieder abhörte, blieben die Laptop-Enthusiasten stumm. Den Datenklau bekämpften andere. 'Die Piraten sind ja nur Möchtegern-Politiker mit Lippenbekenntnissen.' Mit solchen Leuten wollte Sandra nichts zu tun haben. Aus der Splitter-Partei trat sie schon nach einem halben Jahr wieder aus. Einer anderen Partei hat sie sich nicht angeschlossen. Gewachsen ist aber ihr Wissensdurst. Oft taucht sie ab in ihre virtuelle Welt, sucht nach Informationen und bleibt dann vor allem bei negativen Themen hängen.
Seither hat sie viel von ihrer Lebensfreude verloren. Sie ist ernster geworden. “Verbittert”, findet Jan. Vor kurzem hat er Sandra einen 'muckraker' genannt – einen Schmierfinken, der im Schmutz wühlt, um Korruption in Politik und Wirtschaft aufzudecken. Sandra empfand das gar nicht schmeichelhaft. Und als Jan ihre Reaktion bemerkte, hat er mit dem linken Auge gezwinkert und gesagt: “Ist ja nicht böse gemeint. Wärst du ein investigativer Reporter, dann würdest du das als großes Lob empfinden!”
An Jans Humor, der manchmal in Sarkasmus abgleitet, hat sich Sandra gewöhnt. Als sich die beiden kennen lernten, verstanden sie sich im Großen und Ganzen gut. Auch weil sie sich genügend Freiräume ließen. Jan unterstütze Sandra bei Ihren Anstrengungen, unabhängig zu sein. Für die junge Mutter stand außer Frage, dass sie wieder arbeiten würde, sobald Florian aus den Windeln sei. 'Ein bisschen Karriere muss schon sein', scherzte sie gern. 'Das hilft beim Ausgleich, wenn Jan den Oberlehrer spielt.'
Doch Sandras Fröhlichkeit war eher aufgesetzt. Vielmehr litt sie unter dem Gefühl der Ohnmacht, die ihre Wurzeln im gnadenlosen Profitstreben der Wirtschaft hat. Sandra wollte es lange nicht wahrhaben, dass die Ökonomie die Politik diktiert und dass Politiker dazu neigen, die Interessen der Konzerne eher zu berücksichtigen als die Bedürfnisse der Arbeitnehmer. Sandra konnte fuchsteufelswild werden, wenn sie immer wieder von neuen Unverschämtheiten der Industrie erfuhr, die Produkte bewusst mit Fehlern herstellte, damit möglichst bald Ersatz produziert und verkauft werden kann. 'Wenn die Garantie abläuft, musst du damit rechnen, dass ein Haushaltsgerät kaputt geht', entrüstete sie sich. 'Da werden absichtlich Technik-Teile von geringer Lebensdauer eingebaut. Elektrische Zahnbürsten werden produziert, die nach kurzer Zeit nicht mehr funktionieren. Zwar könnten die Batterien gewechselt werden. Will man aber heran an den Stromspeicher, muss man das Gehäuse zertrümmern. Am auffälligsten sind die Verbraucher-feindlichen Neuerungen bei Autos. Früher konnte man eine Zündkerze selbst wechseln. Heute hat der Motorblock gepanzerte Wände, die nur in der Werkstatt geöffnet werden können.' Und immer wieder aufs Neue ärgert sich Sandra, wenn sie Preisschilder vom Produkt nicht lösen oder verschweißte Artikel nur mit Gewalt öffnen kann. Und sie bekommt regelrechte Bauchschmerzen, wenn sie mit der Statistik zum Verpackungswahn konfrontiert wird.
Die Deutschen produzieren mittlerweile jedes Jahr 16 Millionen Tonnen Verpackungsmüll, hat sie gelesen. Im Durchschnitt greift jeder Deutsche 71 mal im Jahr zur Plastiktüte, benutzt sie 25 Minuten und wirft sie dann in die Tonne. Im Pazifischen Ozean schwimmt ein Plastik-Teppich, der angeblich so groß ist wie West-Europa. Selbst im Weltall sind die ersten Plastiktüten auf einer Umlaufbahn.
Nachdem Sandra zum zweiten Mal Mutter geworden war, fand sie Arbeit in der Verbraucherzentrale. Den Job empfand sie als Berufung. Ihr soziales Engagement konnte sie nun voll entfalten. Wie ihre Kollegen konnte sie nun Verbraucher in Fragen des privaten Konsums informieren, beraten und unterstützen. Bei unübersichtlichen Angeboten verschaffen die Experten der Verbraucherzentrale einen Überblick und auch den Durchblick in komplexe Marktbedingungen. Bei dem Versuch, mehr Transparenz zu ermöglichen, stehen die Themen Gesundheit, Ernährung und Energiekosten in vorderster Front.
Als sie noch neu war, hat es Sandra imponiert, wie professionell die Verbraucherschützer arbeiteten, um Fehlverhalten von Unternehmen offenzulegen. Ihre Kollegen arbeiteten investigativ. Unzulänglichkeiten in Ämtern wurden angeprangert. Und wenn Versagen von Politikern im Spiel war, nahmen die Experten kein Blatt vor den Mund. Sandra ist überzeugt, dass ihr Brötchengeber eine wichtige und zum Teil auch eine mächtige Instanz ist.
Zur Beratung ist eine kranke, ältere Frau gekommen. Sie schluckt täglich eine Anzahl von Medikamenten und hat Angst vor Nebenwirkungen. Gesund ernähren will sie sich auch. Sie hat versucht, sich im Internet schlau zu machen. Doch sie ist überfordert.
“In Internet-Foren sind Bewertungen von Produkten oft versteckte Firmen-Werbung. Seien Sie vorsichtig,” mahnt Sandra, die ihren Platz hinter dem Schreibtisch gegen einen Stuhl im Besucher-Eck eingetauscht hat. Der alten Dame, die ihr gegenüber sitzt, hat sie einen Kaffee angeboten. Sandra sorgt für Milch- und Zuckerbeigaben.
“Im Internet stellen Firmen und Privatpersonen ihre Waren ein. Oder sie beschreiben Sachverhalte. Weil sie informieren und vor allem - verkaufen wollen. Da gibt es dann auch Stellungnahmen von Leuten, die nicht viel Ahnung haben - oder die betrügen wollen. Für den Laien ist es schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen.”
Sandra streicht sich über das kurze, blonde Haar. In ihrem dunklen Kostüm mit weißer Bluse, ihrem goldenen Halskettchen und ihren Stöckelschuhen wirkt sie seriös und strahlt Vertrauen aus. Die Beine hat sie nebeneinander gestellt. Sie spricht betont langsam. Die Besucherin hört schwer.
“Bei allem, was Sie lesen: hinterfragen Sie! Fragen Sie sich, ob das, was man Ihnen da bietet, mit dem normalen Menschenverstand vereinbar ist. Holen Sie eine zweite Meinung ein und passen Sie auf, wenn Ihre persönlichen Daten abgefragt werden. Richten Sie am besten eine neue E-Mail-Adresse ein.”
Sandra weist auf die Schwierigkeit hin, zu erkennen, wie alt die Veröffentlichungen sind. “Leider fehlt bei vielen das Datum. Da mag es längst neuere und bessere Produkte geben. Aber die Anbieter wollen auch ihre alten Waren loswerden. Also: Vorsicht und immer wieder Skepsis! Besonders, wenn es um die Gesundheit und um die Ernährung geht. Vorsicht auch bei reißerischen Verpackungen! Fertiggerichte, Instant-Suppen - das ganze Jahr über frisches Obst – all das gäbe es nicht ohne Zusatzstoffe.
Seitdem mit Lebensmitteln viel Geld zu verdienen ist, wird gefärbt, gemischt und aromatisiert. Um die Verbraucher nicht zu vergraulen, mogeln Hersteller Stoffe unter anderen Namen in ihr Sortiment.
„Nehmen Sie das Beispiel Brot,” sagt Sandra und reicht der Besucherin eine Hochglanz-Abbildung, die einen Brotlaib und eine bunte Grafik mit Zahlen und Prozenten zeigt.“
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