Jan schaut Sandra fragend an. Als sie nicht reagiert, zündet er sich eine neue Zigarette an.
“Man muss also unterscheiden zwischen der großen, konservativen, friedfertigen Gruppe gläubiger Muslime und einer kleinen, militanten Gruppe verbrecherischer Islamisten. Die militante Gruppe ist der djihadische Salafismus. Seine größte militante Organisation ist der 'Islamische Staat.'“
“Gibt es denn kein anderes Thema bei euch?”, wirft Florian ein. Jan überhört die Bemerkung.
“Schwierig in der Einordnung ist es, dass sich beide Gruppen – die Friedfertigen und die Militanten - auf Texte im Koran berufen, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Beide bemängeln die Dekadenz der abendländischen Welt, einen übersteigerten Individualismus, eine entseelte, atheistische Lebenshaltung und den fehlenden Zusammenhalt in sozialen Netzwerken. Beide verurteilen Materialismus und Kapitalismus. Die gewaltbereiten Salafisten wollen die Welt mit Terror neu ordnen, indem sie diese zunächst 'entwestlichen'. Das heißt, sie wollen westliche Normen und Werte durch islamische ersetzen. Was im Westen in Jahrhunderten hart erkämpft wurde – individuelle Lebensbestimmung, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit, Emanzipation der Frau, die Trennung von Staat und Religion, Rechtssicherheit durch parlamentarische Demokratie – all das läuft ihrem mittelalterlichen Weltbild zuwider.
„Was ist eigentlich die Sharia?“, fragt Stefan.“Ich hab den Koran nicht gelesen.”
“Ach, nee. Wer hat das schon?”, kommentiert Florian. “Es soll aber Leute geben, die haben den ganzen Wälzer auswendig gelernt.”
"Die Sharia ist die muslimische Rechtsprechung“, beendet Jan das Geplänkel der Brüder. „Sie verlangt zum Teil drakonischen Strafen: Verstümmlung, Steinigung, Versklavung. Heute wie im Mittelalter. Die gewaltbereiten Salafisten wollen, dass die Sharia weltweit angewandt wird.“
“Predigt der Djihad nun wirklich den Krieg oder nicht?”
“Djihad ist der 'Kampf auf dem Wege Gottes', sagt Jan. “Nach der klassischen islamischen Rechtslehre, die sich vor tausend dreihundert Jahren entwickelte, dient der Djihad der Ausbreitung und Verteidigung islamischen Territoriums. Solange, bis der Islam in einem Gottesstaat die beherrschende Religion ist. Mehreren Koran-Versen ist zu entnehmen, dass es sich beim Begriff Djihad eindeutig um einen militärischen Kampf handelt.”
Jan zündet sich wieder eine Zigarette an. Während Sandra sich abwendet, schaut sie demonstrativ an die Decke.
“Vor gut hundert Jahren haben sich einflussreiche Islamische Rechtsgelehrte vom althergebrachten Djihad-Konzept distanziert. Als legitim erkannten sie nur noch Kriege an, wenn sie zur Verteidigung geführt wurden.“
Stefan verzieht das Gesicht. Er ist gegen jeden Krieg und hält sich für einen Pazifisten.
„Das Problem besteht nun vor allem darin, dass sich Muslime in aller Welt unterschiedlich entwickelt haben, und dass es keine muslimische Autorität gibt, die strittige Koran-Interpretationen eindeutig definiert, die dann auch von allen Muslimen anerkannt werden.”
Sandra weiß, dass Jan über dieses Thema noch stundenlang referieren kann. Über den Nahen Osten hat er ein Buch geschrieben, das ziemlich erfolgreich war. Aus dem Getränkefach im Kühlschrank holt sie Nachschub.
“In Deutschland lebt eine kleine Minderheit gewaltbereiter Salafisten, die der djihadistischen Ideologie folgt”, sagt Jan, als er sein Glas neu füllt. Diese Ideologie ist mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.”
“Man muss den Eindruck gewinnen, dass der islamische Extremismus die größte Herausforderung für die westliche Welt ist, ” meint Sandra.
Stefan wiegt den Kopf und gibt zu Bedenken: “Vielleicht. Aber Terror kann doch auch ohne politische oder ideologische Motive angewandt werden. Atombomben müssen doch nicht von Staaten gezündet werden. Denn Staaten haben kein Monopol auf die Anwendung von Kernwaffen. Einzeltäter, kriminelle Spezialisten, Terroristen - denen Ideologien von rechts oder links völlig schnurz sind - können die Bombe zünden.“
Jan überlegt kurz und sagt dann: “Immer häufiger begehen Terroristen Selbstmord-Anschläge. Das eigene Leben zählt nicht. Ob die rechten, linken und die religiös motivierten Terroristen über die Mittel verfügen, Atombomben einzusetzen, weiß ich nicht. Ich halte es für möglich und ich meine, in letzter Konsequenz sind sie auch zum Einsatz der Atombombe bereit. Wer bei Terror-Anschlägen das eigene Leben weg wirft – aus welchen Gründen auch immer - der ist auch zum Äußersten fähig.“
“Aber welche Gruppe ist gefährlicher? Gewaltbereite Salafisten?“, sinniert Stefan, „oder die große Masse der Muslime, die muslimischen Traditionen verbunden ist, aber angeblich mit Terroristen nichts zu tun haben will?“
„Gefährlicher sind doch wohl die Gewaltbereiten. Aber sind nicht auch die Muslime, die nicht integriert werden konnten, eine potenzielle Gefahr, weil aus dem mehr oder minder religiösen Umfeld heraus Gewalttäter rekrutiert werden können?“
„Na ja. Ich warne nur vor einem Generalverdacht. Wenn sich in Deutschland Muslime als Gläubige ausgeben, die fleißig beten und den Koran verschenken, wenn sie keine Moscheen bauen, um ihre deutschen Nachbarn mit Lärm zu terrorisieren, dann lässt sich Extremismus nur schwer nachweisen. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sich friedfertige Muslime zu gewaltbereiten Extremisten entwickeln. Mitglieder einer Parallelgesellschaft können sich gegenseitig unter Druck setzen. Übergänge sind fließend. Ein Nah-Ost-Experte hat einmal treffend formuliert: 'Fest steht: Nicht alle Muslime sind Terroristen. Fest steht aber auch: Viele Terroristen sind Muslime.'“
Die späte Stunde hindert Jan nicht daran, noch weiter auszuholen. „In Deutschland leben etwa vier Millionen Muslime, circa fünf Prozent der Bevölkerung. Die Hälfte sind deutsche Staatsbürger. Der Verfassungsschutz meint, dass etwa 5.000 von ihnen Salafisten seien. Etwa 100 davon seien dem extremen Islamismus zuzurechnen. Salafisten-Vereine sind bei uns verboten. Wer die Salafisten unterstützt, macht sich strafbar.”
„Immer wieder kommen ja Flüchtlinge aus Arabien und Afrika,“ wirft Stefan ein. „Die meisten sind Muslime. Wer weiß, was da alles noch auf uns zukommt.“
Den Professor beunruhigt besonders das Ergebnis einer Meinungsumfrage. “Die Resonanz, die salafistische Anschläge hervorgerufen haben, ist niederschmetternd. Fast 60 Prozent der Bevölkerung sehen in Muslimen eine Gefahr. Aber unberechtigterweise werfen sie gläubige Muslime und gewaltbereite Salafisten in einen Topf.”
“Der Generalverdacht zeigt ja nur, dass die Integrationspolitik gescheitert ist,” gibt Sandra zu bedenken.
Stefan greift das Thema Rechtsextremismus auf. „Und wie erklärst du dir, dass der Extremismus von rechts noch immer seine Blüten treibt?”, fragt er.
“Er hat ein reiches Reservoir von Unzufriedenen. Viele träumen noch immer von der unglückseligen Vergangenheit. Seit Jahren hat man versucht, die NPD zu verbieten. Die Richter entschieden dagegen. Aus verfahrenstechnischen Gründen. Müssen wir halt akzeptieren. Schließlich wollen wir ja in einem Rechtsstaat leben.“
Florian hat genug vom „Kaffeesatzlesen“ - wie er die oft endlosen Monologe des Vaters nennt. Als er noch überlegt, ob er die Runde verlassen soll, fallen ihm seine Kumpels ein. Einige nennen sich Hooligans. 'Mal hören, was der alte Herr über Hooligans zu berichten hat', denkt Florian. Er beschließt zu bleiben.
“Man schätzt,“ fährt Jan fort, „dass in Deutschland etwa 30. 000 Rechts-Extremisten und etwa ebenso viele Links-Extremisten ihr Unwesen treiben. Unter den linken Extremisten sind etwa 8.000 gewaltbereit - darunter ca. 6.000 sogenannte Autonome. Bei den rechten Extremisten beobachtet der Verfassungsschutz auf der einen Seite parlamentarisch orientierte Parteien und eine intellektuell ausgerichtete 'Neue Rechte'. Und auf der anderen Seite die aktionistisch orientierte Neo-Nazi-Szene - darunter auch die kahlköpfigen Skinheads. Neo-Nazis sind in Kontakt mit gewaltbereiten Organisationen vor allem in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien, Russland und den USA,“ erklärt der Professor.
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