In seinem hellen Lodenmantel lehnt Sven Windhorst an einer Hauswand. Auf dem Pflaster neben ihm steht sein Rollköfferchen. Ein Gepäckstück, das Flugzeugkapitäne gerne mit in die Kabine nehmen. Vor Svens Bauch baumelt ein weiß-rotes Plastikband. Und einen Meter neben der Absperrung wacht in schwarzer Montur ein Polizist darüber, dass niemand zum Tatort vordringt. Sven Windhorst will auf die andere Seite des Platzes, zum Bahnhof. Im Bahnhofsrestaurant will er sich mit Julia treffen. Mit ihr hat er sich verabredet, bevor er nach Israel flog. Als niemand von der Demo wusste. Und schon gar nicht ahnen konnte, welche Ausmaße sie annehmen würde.
Sven hat versucht, über die Bahngleise zum Restaurant zu kommen. Auch dies hat die Polizei verhindert. Julia anzurufen hat auch nicht geklappt. Sven will einen neuen Treff verabreden. Doch ihr Handy bleibt stumm. Sven ist pünktlich aus Tel Aviv zurückgekommen. Mit dem Zug will er am Abend noch nach Hause fahren. Doch vorher muss er Julia sehen. Das hat er ihr versprochen.
Auf den Nebenschauplätzen der Prügel-Orgie ist der Lärm fünf Stunden nach Beginn der Demonstration noch immer ungebrochen. Auch am Bahnhof ist das Gejohle nicht zu überhören. Dort durchdringen nun rotierende blaue, gelbe und rote Lichter der Sicherheitsfahrzeuge die Dunkelheit. Eine Krähe fliegt kreischend über die fast verwaiste Hauptkampfstätte. Den Vogelflug verfolgt auch Sven Windhorst. Die Krähe landet neben einem undefinierbaren Bündel, das die Müllmänner mit den Besen offenbar übersehen haben. Dass die Krähe neugierig in das Bündel pickt, verwundert Sven nicht. Dass der Vogel aber gleich darauf wieder aufsteigt, aufgeregt flatternd über dem Bündel kreist, hinüber zu den Büschen fliegt und mit drei anderen Krähen ins Halbdunkel zurückkommt, macht den Beobachter stutzig. Angestrengt starrt Sven auf das Bündel. Die rotierenden Warnleuchten blenden. Doch dann ist er sich sicher.
“Da hinten liegt jemand,” macht er den Polizisten aufmerksam. “Sehen Sie, dort. Ein Knäuel von Stoff. Könnten Jeans sein.” Er zeigt ins Dunkel auf halbem Weg zwischen den Mannschaftswagen und der Absperrung.
"Das Bündel hat sich bewegt.”
“Sie können hier nicht durch. Erst wenn die Absperrung freigegeben wird. Vorschrift,” knarrt der Polizist und tippt an die Plexiglasklappe seines Helmes.
“Seh'n Sie doch. Da guckt ein Bein aus dem Stoff. Jetzt bewegt es sich.”
Dies veranlasst den Polizisten dann doch, die Einsatzleitung zu verständigen.
Mehr Sicherheit - mehr Abhängigkeit
Julia konnte es kaum erwarten. Den ganzen Tag über hat sie vor allem an eines gedacht: Sie muss eine Entscheidung treffen. Die Zeit drängt. Morgen ist Termin. Sven ist noch immer unentschlossen. 'Wenn ich aus Nahost zurückkomme, können wir ja noch mal alles bereden', hat er sie vertröstet. 'Heute also werden wir klar sehen.' Julia ist noch einmal durch die Papiere gegangen. Alles spricht dafür, dass sie unterschreibt. 'Mehr Sicherheit', sagt sie laut zu sich selbst, 'heißt aber auch mehr Abhängigkeit.' Julia rümpft die Nase.
Die sportliche, junge Frau in engen, knallroten Hosen ist nach der neuesten Mode gekleidet. Das, meint sie, verlange schon ihr Beruf. Sie weiß, dass sie den Männern den Kopf verdrehen kann. Sie hat das Herz auf dem richtigen Fleck. Sie lacht gern und viel. Abenteuerlustig ist sie - und schlagfertig ist sie auch. Freilich hat sie ihren eigenen Kopf, weiß fast immer, was sie will. Bevor sie Ratschläge anderer annimmt, überlegt sie sich dies zweimal. Denn auch zum Munde redet sie den Leuten nicht. Richtig sauer wird sie nur, wenn man ihren Stolz verletzt oder sie für dumm verkauft.
Dieser Sonntag ist Hausputz-Tag. Für die Wohnung blieb unter der Woche keine Zeit. Seit sie die Boutique übernommen hat, bleibt so vieles liegen. Das Geschäft hat Vorrang. Alles Private kommt zu kurz. Gleich nach dem Frühstück hat der Staubsauger seinen Geist aufgegeben. Dann stieß sie mit dem Besen gegen das Waschbecken. Nun hat der Ablauf ein Leck. Der große Blumentopf auf der Fensterbank ist heruntergefallen. Dass das Eisen auf dem besten Wege war, ein Loch ins Bügelbrett zu brennen, hat Julia aber rechtzeitig verhindern können.
Zum Mittag gab's Fast Food aus der Frittenbude. 'Nicht gut für die Gesundheit', sagte sie sich zum tausendsten mal. Entschuldigte sich aber damit, dass ihr die Gesundheitsfanatiker auf den Geist gehen. Schuheputzen, Staubwischen, Wäsche zusammenlegen am Nachmittag.
Das Bad in der Holzbadewanne, das Julia dann nahm, war wohlig entspannend. Sie rief ihre Mutter an. Doch das Gespräch war kurz. Denn Julia fiel ein, dass sie sich fürs Neue Jahr vorgenommen hatte, nicht mehr in der Badewanne zu telefonieren. Als sie mit dem Schminken fertig war, schaute sie noch einmal keck in den Spiegel. Sie hob die linke Augenbraue und sagte laut: “Na, Sven, traust du dich mit mir so unter die Leute?”
Mit ihrem kleinen Sportwagen ist sie bald in der Innenstadt. Von weitem hört sie Böllerschüsse. Zuerst denkt sie an Silvester-Feuerwerk. Dann, als sie nur noch ein paar Steinwürfe vom Bahnhof entfernt anhält, duckt sie sich abrupt. Ein neuer Böller. Blitzschnell reagiert Julias Instinkt auf einen vermeintlichen Pistolenschuss, den man in ihre Richtung abgefeuert hätte.
Rot-weiß-rote Plastik-Bänder versperren den Weg zum Bahnhof. Die Dunkelheit setzt ein. Erst nach langer Suche findet Julia einen Parkplatz. Weit entfernt von ihrem Treffpunkt am Bahnhof. Jetzt fürchtet sie, dass sie zu spät kommt. Sie will Sven anrufen. Doch ihr Handy streikt. Die Batterie ist leer. An der Absperrung neben schwarz-uniformierten Polizisten wartet Julia dann eine lange Stunde. Inmitten von Schaulustigen. Julia ist in Gedanken bei ihren Papieren. Alle Argumente für und wider hat sie x mal durchgehechelt. Von Sven will sie keine langatmigen Pros und Cons, sondern ein klares “ja” hören.
Die Randale hinter dem Bahnhof kann Julia nicht sehen. Wohl aber die Polizeifahrzeuge, die quietschend halten und immer mehr Schwarz-Uniformierte ausspucken. Gepanzerte Fahrzeuge jagen an ihr vorbei, halten abrupt an Krankenwagen und Wasserwerfern, die als erste kamen. Bald will Julia die Hast und den Lärm nicht länger ertragen. Sie macht sich auf den Weg zurück zum Auto. Sie wird versuchen, ihren wichtigen Termin zu verschieben. Als sie den Wagen anlässt, fällt ihr ein, dass sie der Mutter versprochen hat, noch kurz bei ihr vorbeizukommen. Aus dem Automaten holt sie einen Blumenstrauß.
Die den Tod nicht scheuen
Die gewalttätige Demonstration ist das beherrschende Thema der Fernseh-Nachrichten-Sendungen des Abends. “Wieder wurde die rechte Gefahr unterschätzt. Gewaltbereite Hooligans und Rechtsradikale: gemeinsam präsentierten sie sich als die Guten, gemeinsam traten sie auf gegen Salafisten, die Speerspitze der islamischen Extremisten. Aus der angemeldeten Demonstration entwickelten sich Straßenschlachten mit der Polizei,” verliest der Sprecher.
Die Fanfare der “Tagesthemen” hat Jan Schröder nicht sofort ins Wohnzimmer gelockt. Aus der Küche hört er dann aber doch mit zunehmendem Interesse zu. Mit der Fernbedienung dreht er den Ton lauter.
“Das Gewaltpotential ist extrem hoch. Ein gefährliches neues Sammelbecken. Der Kern setzt sich zusammen aus gewalttätigen Hooligans, die eine eindeutig rechte Gesinnung haben. Bisher verfeindete Fußball-Hooligans haben im Kampf gegen gefährliche Salafisten ein gemeinsames Feindbild gefunden. Sie haben zu der Demonstration aufgerufen. Neo-Nazis haben sich angeschlossen. Denn die Nazis haben offenbar erkannt, dass sie mit bloßer Ausländerfeindlichkeit in Deutschland nicht punkten können.”
Jan sitzt jetzt lässig im Sessel, verfolgt die Sendung aber gespannt. Die Beine hat er übereinander geschlagen. Auf dem Couchtisch liegt ein Päckchen Pall Mal Menthol. Daneben steht ein Aschenbecher. Aus der Westentasche fischt Jan ein Feuerzeug. Er zündet eine Zigarette an. Denkt kurz an die Ermahnungen seiner Frau. 'Klar, Nikotin gefährdet die Gesundheit.' Doch nach dem ersten Zug hat er alle guten Vorsätze schon wieder verdrängt.
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