Neben der Männer-Schlange drängt sich eine ebenso lange Schlange von Frauen durch das Scheunentor. Die Damen tragen weiße Häubchen und fußlange, einfarbig-graue Kleider. Sie haben ihre selbst genähten Sonntagskleider an. Die Männer tragen schwarze Hüte mit breiten Krempen. Die Verheirateten haben einen Vollbart - aber keinen Schnurrbart. Eine Kirche gibt es nicht. Der Gottesdienst ist in einem Privathaus. Einmal im Jahr ist jeder Amisch an der Reihe, den Gottesdienst auszurichten. Mit viel Gesang und langen Predigten dauert er vier Stunden.
Anna-Lena ist ihren Kommilitonen nachgelaufen. Sie kann es nicht verhindern, dass die Studenten Schnappschüsse machen. Aber Interviews gibt es nicht. Die Amische sind voll auf ihren Gottesdienst eingestimmt. Mit den Touristen wollen sie nichts tun haben. Jedenfalls nicht jetzt. Das Scheunentor fällt zu.
Ein paar Kilometer weiter besucht Jans Gruppe ein Museum. In einer ehemaligen Scheune stehen Unmengen staubiger Möbel herum. Gezeigt und mit kleinen Schildchen versehen werden gut erhaltene Haushalts-Gegenstände aus vor-industrieller Zeit. Schaubilder in Vitrinen weisen auf die Geschichte und die religiösen Besonderheiten der Amische hin. Breiten Raum nimmt die Literatur über Berufe ein, die sich die Amischen bewahrt haben: Sattler, Schmiede, Wagner, Böttcher, Schuster, Schneider, Hutmacher oder Weber. Besonders hervorgehoben wird eine Ausnahmeregelung, die die Amischen den "Englischen" abgetrotzt haben. Da die Kinder auf dem Lande schon als Zehnjährige arbeiten müssen, führt die Schule nur bis zur 8. Klasse. Alle Schüler - die jüngsten ebenso wie die ältesten - werden in einem gemeinsamen Klassenraum unterrichtet.
Auf dem Weg zu einer Farm traut Jan seinen Augen nicht. Ihm fällt ein Teenager auf, der im Schritt-Tempo und in Schlangenlinien Auto fährt. Die Scheiben hat er herunter gelassen. Drei Halbwüchsige sitzen auf der Rückbank. Jeder hält eine Bierdose in der Hand. Aus dem Radio tönt laut ein Rapper. Und die Teenager grölen im Takt. Jan überholt den Wagen. In einen Unfall will er nicht verwickelt sein.
"Ich denke, die Amische dürfen nicht Auto fahren - schon gar nicht, wenn sie betrunken sind," sagt Jan zu Anna-Lena, die wieder den Beifahrersitz eingenommen hat.
"Stimmt. Eine Ausnahme. Die 'Rumspringa' machts möglich."
"Wie bitte?"
"Die Rumspringa ist die Zeit vor dem Erwachsen-Werden. Ein paar Wochen vor der Taufe dürfen die Kandidaten Dinge tun, die sonst verboten sind. Die älteren Amische sind sich sicher: Wer so gewichtige Entscheidungen treffen muss, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen, der muss auch selbst erleben, worum es geht. Entscheidungen, die auf Hörensagen aufgebaut sind, reichen da nicht aus."
"Das Autofahrverbot kann aber nicht das einzige Verbot sein, das die jungen Leute brechen wollen."
"Natürlich nicht," entgegnet Anna-Lena. "Radio hören, Fernsehen, Telefonieren, Glücksspiel - in der Rumspringa ist's erlaubt."
Der Kleinbus passiert einen Traktor, der von vier Pferden gezogen wird.
"Haben Sie gewusst, dass sich die Bevölkerungszahl der Amische alle 20 Jahre verdoppelt?", fragt Anna-Lena.
"Nein," sagt Jan, der im Rückspiegel dem Kutscher auf dem Traktor nachschaut. " Bei zehn Kindern keine Überraschung."
"Und wie erklärt der Professor das Phänomen, dass sich die Amische so lange als eigenständige Gruppe erhalten haben, ohne im Schmelztiegel USA untergegangen zu sein?"
"Zweifellos hat der extreme Gesellschaftszusammenhalt eine große Rolle gespielt. Harte Arbeit, Genügsamkeit, Verzicht auf Luxus und Sparsamkeit der Menschen waren die Voraussetzung. Das wichtigste Merkmal der amischen Gesellschaft ist aber ihre Gelassenheit. Ihre Bischöfe predigen, sich Gott gänzlich hinzugeben: durch Schlichtheit, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit und Demut. Eigenschaften wie Stolz und Eitelkeit hingegen sind in den Leitlinien der Bischöfe nicht enthalten."
Als Jan beginnt, Vergleiche zwischen Amischen und Juden anzustellen, als er über strenge Riten, Absonderung und Glaubensstärke redet, zündet Anna-Lena eine Zigarette an. Sie nimmt zwei tiefe Züge. Dann steckt sie Jan das Mundstück zwischen die Lippen. Überrascht bricht der seine Überlegungen ab. Er sinniert über den plötzlichen Zigaretten-Kuss. Und er fragt sich, wie er darauf reagieren soll. 'Am besten ignorieren', meint er.
Nach dem dritten Zug sagt er dann "danke". Und als Anna-Lena nun angestrengt durch die Windschutzscheibe nach vorne schaut, fügt Jan hinzu: "Ist ja meine Marke, vielen Dank."
Die Reise zur „Insel der Gelassenheit“ führt zurück in die Hektik von New York. Am nächsten Tag wollen die Studenten wieder in Deutschland sein. Im Hotel erfährt Jan, dass aus dem geplanten Treffen mit dem französischen Professor nichts wird. Die renommierte Wirtschafts-Koryphäe hat abgesagt.
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