"Der Sicherheitsrat besteht aus 15 Mitgliedern. Davon sind fünf ständige Mitglieder: Die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Die fünf ständigen Mitglieder haben ein Vetorecht. Eine einzige Veto-Abgabe kann jeden Resolutionsentwurf abschmettern."
Besonders Amerika-kritisch ist Anna-Lena. Sie spricht so fließend Englisch als sei es ihre Muttersprache. "Nationale Alleingänge“, sagt sie, „vereiteln die meisten Ansätze, um zu mehr Verbindlichkeiten in den Vereinten Nationen zu kommen. Besonders die Amerikaner lassen ihren Willen zur Unterwerfung unter das völkerrechtliche Gewaltmonopol des Sicherheitsrates vermissen. Stattdessen versuchen sie im Alleingang oder mit Koalitionen unter ihrer Führung militärische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen."
Eine andere Studentin verweist auf Täuschungsmanöver der George W. Bush-Regierung beim Angriffskrieg gegen den Irak.
"Die Charta der Vereinten Nationen verlangt ein Gewaltverbot zur Beilegung von Streitigkeiten und untersagt Angriffskriege. Dagegen haben die USA immer wieder verstoßen. Ohne ein Mandat der UNO haben sie in anderen Staaten Krieg geführt. Schon im Jahre 2001 plante das Pentagon eine Invasion im Irak- zwei Jahre bevor die USA dann einmarschierten. Washington erklärte, der Irak stelle Massenvernichtungs-Waffen her und wolle die USA angreifen. Wie sich später herausstellte, entbehrten die amerikanischen Behauptungen jeder Grundlage. Der Überfall auf den Irak war ohne ein Mandat des Weltsicherheitsrates."
Die Studenten klopfen zustimmend.
„Trotz einer Vielzahl von Drohungen hat in unserem Atomzeitalter ein angenommenes Gleichgewicht des Schreckens zur Entspannung zwischen den Blöcken in Ost und West geführt. Auch eine partielle Abrüstung war möglich. Die ständigen Vertreter im UNO-Sicherheitsrat - alle sind ja Atommächte - schlossen 1968 den Atomwaffen-Sperrvertrag. Aber nicht als eine UNO-Übereinkunft, sondern nur als eine internationale, zwischenstaatliche Vereinbarung,“ sagt Anna-Lena.
„Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen verbietet die Verbreitung von Kernwaffen und verpflichtet zur Abrüstung, erlaubt aber die friedliche Nutzung von Kernenergie. Fast alle Staaten sind dem Vertrag beigetreten. Pakistan und Indien, die über eigene Nuklearwaffen verfügen, lehnen eine Mitgliedschaft ab. Auch Israel, das Atombomben herstellen kann, ist dem Vertrag nicht beigetreten. Nordkorea, das von sich behauptet, Kernwaffen zu besitzen, ist ebenfalls kein
Mitglied.“
„Muss denn hier nachgebetet werden, was Wort für Wort im 'Politik-Lexikon für junge Leute' steht?“, fragt der Bärtige. In Jans Seminar gilt er als Besserwisser. Und sie nennen ihn nur Nörgli.
Anna-Lena lässt sich nicht beirren.
„Die Internationale Atomenergie-Organisation soll kontrollieren, ob der Vertrag eingehalten wird. Da Kontrollen angemeldet werden müssen, und da nur solche Anlagen überprüft werden, die von den Betreibern angeboten werden, sind die Möglichkeiten, Verstöße aufzudecken, nur gering.
In gewisser Weise ist der Atomwaffen-Sperrvertrag ein Hebel, den die Starken gegenüber den Schwachen einsetzen. Der Vertrag schreibt nämlich das Ungleichgewicht zwischen den Atommächten und den Habenichtsen fest. Während fast 200 Staaten der Zugang zur Bombe verwehrt ist, unternehmen die Kernwaffen-Staaten nur geringe Anstrengungen zur Abrüstung. Nicht-atomar-bewaffmete Staaten, die erklären, Atomenergie zur zivilen Nutzung herstellen zu wollen, haben es besonders schwer, wenn man ihnen unterstellt, sie wollten in Wahrheit Kernwaffen bauen.“
Professor Schröder meldet sich noch einmal zu Wort:
"Diese Beispiele zeigen deutlich, was der UNO auch ein Dreiviertel Jahrhundert nach ihrer Gründung noch immer fehlt: ein zentrales Gesetzgebungsorgan, eine hierarchisch strukturierte Gerichtsbarkeit und eine Exekutivgewalt, die in der Lage ist, ihre Grundsätze durchzusetzen. Dass es noch immer nicht gelungen ist, ein Völkerrecht zu definieren, das von allen Mitgliedern als allgemein gültig anerkannt wird, zeigt die Notwendigkeit von Reformen. Im Vergleich zu diesem Mammutprogramm sind andere Reformvorhaben zweitrangig.“
Nörgli ist im Begriff, seinen Salm hinzuzufügen. Jan hebt Jan die Brauen – was den Studenten veranlasst, auf einen neuen Zwischenruf zu verzichten.
„Bei Abstimmungen in der Vollversammlung hat jedes Mitglied ebenso viel Gewicht wie jedes andere Mitglied. Luxemburg ebenso viel wie China. Nach dem Motto 'Ein Land - eine Stimme'. Brasilien, Indien, Japan und Deutschland wollen ständige Mitglieder im Sicherheitsrat werden. Diskutiert wird auch seit langem, ob Deutschland nicht doch lieber auf eine Mitgliedschaft verzichten sollte - zugunsten eines "Mitglieds Europa." Angesichts der Ungleichheit beim Prinzip "Ein Land - eine Stimme" wird es wohl noch lange dauern, bis eine Lösung gefunden wird, die Deutschland dauerhaft im Weltsicherheitsrat verankert. Denn die Vereinten Nationen sind im Zweifelsfall immer nur so stark wie das schwächste seiner Mitglieder.“
Jan möchte, dass nicht immer nur die Schwächen der UNO hervorgehoben werden.
„Um die Vereinten Nationen stärker und effektiver zu gestalten, muss jedes einzelne seiner Mitglieder auf Teile seiner Souveränität verzichten.,“ betont er. Solange sich diese Einsicht nicht bei allen durchsetzt, wird die UNO eine Organisation bleiben, der der Biss fehlt und über deren Mahnungen sich die Atommächte unter Missachtung der Charta weiter ohne große Skrupel hinwegsetzen.“
Das ist auch die Meinung der Studenten. Jan erntet zustimmendes Klopfen.
„Wer aber glaubt, dass es sich bei den Vereinten Nationen nur um eine „lahme Ente“ oder einen Quasselverein handelt, der irrt. In Zeiten der Spannungen – dann, wenn sich die Gewaltspirale dreht und wenn direkte Kontakte zwischen den Kontrahenten abbrechen - ist die UNO mit ihren Spezialisten eine Plattform für den Dialog. Die Vereinten Nationen sind eine hervorragende Bühne für die Diplomatie - wenn es darum geht, Lösungen auf friedlichem Wege vorzubereiten und zu erzielen."
Wieder klopft Jans Besuchergruppe Beifall.
"Zur Bewertung der Leistungen der Vereinten Nationen gehört auch ein Blick auf die Blauhelm-Aktionen in aller Welt. Die friedens-sichernden Militäreinheiten unter dem Kommando der UNO werden meist zwischen den Fronten der Konfliktparteien eingesetzt,“ sagt Jan Schröder. „Sie werden nur dann aktiv, wenn das Gastland dies zulässt. Die Blauhelme haben keinen Kampfauftrag. Sie sind aber bewaffnet, um sich selbst zu schützen. Besondere Verdienste haben sich die Blauhelme nicht so sehr als kämpfende Truppe, sondern als Vermittler zwischen den Kontrahenten erworben.
Die größten Erfolge der UNO liegen auf humanitärem, sozialem und entwicklungs-politischem Gebiet. Ohne die Arbeit von UNWRA, dem Hilfsprogramm für Palästina-Flüchtlinge, ohne den Einsatz des Kinderhilfswerkes UNICEF, ohne die Arbeit der Weltgesundheits-Organisation WHO oder die Bemühungen der Ernährungs- und Landwirtschafts-Organisation FAO wären das Leid der Ärmsten unter den Armen, die Schicksale von Hungernden, von Kranken, von Verletzten, von Obdachlosen und Flüchtlingen um ein Vielfaches größer als sie noch immer sind."
Zum Tagesausklang führt Jan seine Studenten ins gerammelt volle „ Easy Internet“ am Times Square. Rund um die Uhr können dort gleichzeitig 800 User surfen. Nörgli ergattert einen Platz. Auf der Website der Vereinten Nationen sucht der Besserwisser nach der Definition des Völkerrechts. Jans erhobene Brauen verlangen schließlich eine profunde Antwort. Nörgli kann sie nicht finden. Die Suche bestätigt den Professor: Die UNO-Mitglieder sprechen allenfalls von internationalem Recht. Auf ein „Völkerrecht,“ das die UNO definiert, konnten sie sich bisher nicht einigen.
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