"Wie heißt der Code?"
Sven hat ein super-flaues Gefühl im Magen. Ihn plagen Gewissensbisse. Der barsche Fragesteller kann nur ein gefährlicher, übler Verbrecher sein. 'Durch meine Hilfe kommt das Scheusal zu Geld. Ich bin schuldig, wenn der Kerl noch mehr Menschen drangsaliert', macht sich Sven Vorwürfe. 'Aber jetzt ist es zu spät, auszusteigen.'
"Jackpot hieß die Parole. Nun heraus mit dem Code", fordert die Stimme, die keinen Widerspruch duldet. Sven weiß, dass er jetzt liefern muss.
"Lang-kurz-lang, kurz-kurz-lang, kurz-lang-kurz, promis, kurz-kurz-kurz, lang-lang-lang, kurz-kurz-kurz : KUR PROMIS SOS"
"Wiederholung!," fordert der Mann mit schneidender Stimme.
Sven tut, wie ihm befohlen. Jetzt wissen die Terroristen, dass Berlin zahlen will. Die Reaktion des Fragestellers ist gleich Null. Kein Danke, keine Nachricht nach Berlin, nichts.
Dann hört Sven Schritte, die sich entfernen. Jemand zerrt ihn am Arm und bugsiert ihn wieder in ein Auto. Noch immer sind seine Augen verbunden. Der Wagen holpert über Schlaglöcher. Sehr steil bergan. Bergab geht es weiter zu Fuß. Beim Gänsemarsch auf einem steinigen Pfad stolpert Sven. Seine Augenbinde verrutscht ein wenig. Für einen Moment sieht Sven verdorrtes Gebüsch. Vor ihm geht ein Uniformierter, der ein Gewehr trägt. Ein Begleiter, der hinter Sven läuft, hat bemerkt, dass sich die Augenbinde gelöst hat. Er greift nach Svens Schultern und zwingt ihn anzuhalten. Er ist offenbar der Anführer des Trupps. Sogleich beginnt er, die Augenbinde wieder festzuzurren.
Ein paar Momente später raunt er ein „Jalla !“ und die Gruppe setzt sich wieder in Bewegung. Und wieder ein paar Augenblicke später stellt Sven freudig fest, dass die Augenbinde locker ist. Durch einen schmalen Schlitz am unteren Rand seines linken Auges kann Sven wie durch einen winzigen Tunnel sehen. Jetzt ist höchste Vorsicht geboten. Wenn seine Begleiter herausfinden, dass Sven nicht mehr völlig „blind“ durchs Gelände stolpert, kann dies nur unangenehme Folgen haben. Nach ein paar Metern wendet Sven den Kopf nach hinten. Er testet, wie der Mann in seinem Rücken darauf reagiert. Weil eine Reaktion ausbleibt, testet Sven ein zweites und dann noch ein drittes mal.
Durch den Schlitz sieht Sven nun das Gesicht des Anführers. Wie die meisten Milizionäre trägt er einen schwarzen Vollbart und hat dunkle Augen. Er hat aber ein besonderes Kennzeichen: eine Narbe, die vom linken Auge bis zum Nasenflügel reicht. 'Dieses Gesicht werde ich mir merken', nimmt sich Sven vor, und zieht seine Augenbinde nach unten. Als man den Piloten dann in einen anderen Pickup schiebt, ist der Sehschlitz verschlossen.
Sven schätzt, dass er auf dem Rückweg von fünf Personen bewacht wird. Wahrscheinlich ist auch die Schönheit im Parka dabei. Wie beim Hinweg steigt die Gruppe auch ein drittes mal in ein anderes Fahrzeug um. Den Kontrollpunkt, auf dem es zuvor so laut zuging, passieren sie dies mal ohne besondere Vorkommnisse. Auf der Hauptstraße wird Sven dann von seiner Augenbinde befreit. Von zarter Hand. Sven erkennt die Frau im Parka. Obwohl es mittlerweile stockdunkel geworden ist. Nur dann und wann kommt ihnen ein Fahrzeug entgegen.
„Der Fahrer bringt Sie nach Chtaura. Vor dem 'Mc Donalds' können Sie ein Taxi nehmen," sagt die Frau. "Dann sind Sie noch vor Tagesanbruch wieder in Beirut. Und bemühen Sie sich nicht, den Fahrer auszuquetschen. Es ist zwecklos. Er ist stumm.“
Sie hält ihr Handy in die Höhe und drückt die Aus-Taste.
"Telefonieren Sie mit niemandem! Ein Wort am Telefon über unser Treffen und Sie sind ein toter Mann.“
Als die Frau in eine Limosine steigt, die sie zurück nach Norden bringen soll, dreht sie sich noch einmal um.
„Täuschen Sie sich nicht, Herr Kapitän,“ lächelt sie. „Wenn der 'Islamische Staat' droht, meint er, was er sagt."
Auf der Strecke nach Süden ist dem Fahrer kein einziges Wort zu entlocken. Zeit für Sven zum Grübeln, wohin ihn die Milizionäre gebracht haben könnten.
'Wahrscheinlich nach Aarsal, “kombiniert er.
Bevor er nach Beirut geflogen war, hatte er gelesen, dass der 'Islamische Staat' das libanesische Bergdorf überfallen und die Kontrolle über einen Polizeiposten übernommen hat. Aarsal ist nur ein paar Dutzend Kilometer von Damaskus entfernt. Und noch eine andere Zeitungs-Meldung hatte Sven beunruhigt: „Israels Ministerpräsident hat Jordanien Unterstützung im Kampf gegen die wachsende Bedrohung durch den Islamischen Staat zugesagt. Im Gaza-Streifen gäbe es aktive Anhänger des IS. Den Israelis werde bewusst, dass sie eines Tages erwachten, und der Islamische Staat stehe an ihren Grenzen.
'Während bei den Arabern der Teufel los ist, haben sich die Israelis auffallend zurückgehalten,' konstatiert Sven. 'Hoffentlich bleibt es dabei.'
In Chtaura muss Sven auf Labna, die libanesische Köstlichkeit aus Joghurt, auch diesmal verzichten. Die Milchbar ist geschlossen. Just in dem Moment, in dem er aus dem Auto klettert, kommt ein Taxi vorbei. Es hat ein Beiruter Kennzeichen.
Nur so stark wie das schwächste Glied
"Die Menschenrechts-Charta ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Vereinten Nationen. 'Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren', heißt es in der denkwürdigen Deklaration. "Die Vereinten Nationen haben das Ziel, den Weltfrieden zu sichern, über die Einhaltung der Menschenrechte zu wachen und soziale Gerechtigkeit zu schaffen."
Im kleinen Konferenzsaal des Glas-Towers am East River verliest ein UNO-Mitarbeiter die Charta, die die Generalversammlung am 10. Dezember 1948 verkündet hat. Der Mann steht vor einer Tafel voller bunter Grafiken. Mit einer Taschenlampe wirft er einen Lichtkegel auf Skizzen und Zahlenreihen. Seine Erläuterungen untermauert er, indem er den Lichtkegel auf die dazu gehörenden Grafiken lenkt. Der Mann mit der Taschenlampe versucht nicht, mit seinem Stolz hinter dem Berg zu halten. Obschon er davon ausgehen kann, dass die Studenten aus Deutschland gut informiert sind, erläutert er historische Meilensteine so, als ob man sie eben erst gesetzt hätte.
Professor Jan Schröder und seine Studenten haben ausgedehnte Besichtigungstouren durch die Acht-Millionen-Metropole hinter sich. Vom Hotel aus waren sie zunächst mit der U-Bahn nach Manhattan-Süd gefahren. Auf Governors Island machten sie das erste Gruppenfoto mit der Skyline der Wolkenkratzer im Hintergrund. Die Freiheitsstatue lag ein bisschen im Nebel. "Ein Geschenk der Franzosen an die Vereinigten Staaten," bemerkte Jan. "Die Statue stellt Libertas dar, die römische Göttin der Freiheit. Im Jahre 1776 haben die amerikanischen Gründerväter demokratische Ideen verwirklicht, die in Europa entwickelt und dann in der französischen Revolution von 1789 umgesetzt wurden. Die Figur ist ein Symbol der Freiheit."
Mit dieser Bemerkung erntete der Professor sowohl ein Gähnen als auch den Kommentar eines bärtigen Doktoranden: "Jawohl, Herr Oberlehrer." Die Kritik konnte Jan allerdings nicht schrecken. Mit seinen Studenten steht er auf gutem Fuß. Da darf auch geflachst werden. In den Seminaren, die Jan an der Uni leitet, ist "der Preuße" ein häufig gewählter Zwischenruf. Jans Pedanterie entspricht wohl den Vorstellungen, die ein Student von preußischen Tugenden hatte, als er nach einem Spitznamen für den Professor suchte.
Wie beiläufig fragte Jan zurück: "Und welchen Freiheitsbegriff sollten wir zu Grunde legen?"
"Der philosophische Freiheitsbegriff ist ständig in der Diskussion. Er unterliegt einem permanenten Wandel. Er umfasst gleichzeitig psychologische, soziale, kulturelle, religiöse, politische und rechtliche Dimensionen. Er ist ein zentraler Begriff der menschlichen Ideengeschichte. Jawoll," sagte der Student mit dem Vollbart.
"In unserer Rechtstradition ist der Begriff der Handlungsfreiheit elementar," ergänzt Anna-Lena. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Herzchen-Aufdruck 'I love NY'. Plumpe Dekorationen auf der Brust mag sie zwar gar nicht leiden. Dennoch hat sie sich das T-Shirt übergestreift. Notgedrungen - weil sie sich ihren "Coffee to go" unterwegs über die Bluse geschüttet hatte. Und weil kein Ersatz zur Hand war.
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