1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Wieder trat eine Pause ein. Die beiden Frauen sahen sich in die Augen. Dann umarmen sie
sich - und dann lachten sie miteinander.
“Hast du denn so viel?”
“Hab ich.”
“Ich zahl' Dir aber keine Zinsen.”
“Weiß ich. Lass man gut sein. Ich hab' auch keine Lust, Minuszinsen an die Bank zu zahlen.”
“Wir gucken uns das Haus aber vorher noch an. Einverstanden?”
“Ja, Mammi!” Das Kosewort hatte Julia zuletzt benutzt, als sie mit einer großen Schultüte bewaffnet in die 1. Klasse kam.
Bild der heilen Familie wahren
Professor Jan Schröder lehnt sich zurück in den Sitz. Soeben hat man Entwarnung gegeben. Die Passagiere des Trans-Atlantik-Fluges können ihre Sicherheitsgurte wieder öffnen. Die Maschine ist halb leer. Bis zum Morgen hatte der Streik der Flugzeug-Kapitäne gedauert. Viele Passagiere, die zunächst auf dem Flughafen gestrandet waren, sind auf andere Linien oder die Bahn oder den Bus umgestiegen. Auch der Flug, den Jan gebucht hatte, sollte ausfallen. Völlig überraschend hob die Maschine dann aber doch ab. Es war der erste Flug nach Beginn der unbefristeten Streiks vor drei Tagen. Die Streikleitung meinte wohl, sie müsse “gut Wetter machen”. Denn das Verkehrschaos, das die Mini-Gewerkschaft der Piloten angerichtet hatte, war alles andere als populär. Schließlich konnten die wenigsten Menschen nachvollziehen, dass das Gros der Bevölkerung für denselben Lohn länger arbeiten sollte, wohingegen die ohnehin fürstlich dotierten Flugkapitäne der 'Lufthansa' weiterhin einige Jahre früher als die meisten Ottos Normalverbraucher in Rente gingen. Mit dem Streik wollten die Cockpit-Gewerkschafter außerdem erreichen, dass ihre saftigen Übergangszahlungen bis zum eigentlichen Rentenbeginn auf keinen Fall gekürzt werden. 'Ist-Stand-Wahrung von viel Geld für kurze Arbeitszeit,' hat Jan die Forderungen der kleinen Monopol-Gewerkschaft genannt.
Jan Schröder lässt den Blick durch die Kabine schweifen. In seinem hell-grauen Anzug, weißem Hemd und rotem Schlips sitzt er am Gang. Die Reihe vor ihm ist nicht belegt. Auf den Plätzen links neben ihm hat sich eine Familie mit drei Kindern eingerichtet. Die Erwachsenen haben sich in Decken gehüllt. Sie rutschen unruhig auf dem harten, schmalen Sitzpolster umher, bis sie eine günstige Position gefunden haben. Für die Kinder war der Sicherheits-Hinweis das Signal, von ihren Sitzen zu springen. Sie erkunden nun die langen Gänge, die zum Cockpit führen. Der Kleinste der drei spielt sein Spiel “Sicherheitskontrolle”. Mit ernster Miene geht von einer Sitzreihe zur nächsten. Er spricht die Passagiere freundlich an. “Du brauchst den Sicherheitsgurt nicht mehr. Erst wieder bei der Landung”, sagt der Knirps zu jedem Reisenden. Die meisten Passagiere reagieren zunächst etwas verblüfft. Doch wenn sie erkennen, dass sie mitspielen sollen, danken sie dem Kind mit freundlichem Händeschütteln. Der Junge sagt, im Kindergarten spielen sie oft “Sicherheitskontrolle”. Weil ja dauernd und überall über Sicherheit und über die Forderungen nach mehr Sicherheit gesprochen wird.
Die Stewardessen beginnen mit dem Service. Sie schieben voll beladene Wägelchen vor sich her. Heißer Kaffee ist der Renner. Der Preis ist im Ticket inbegriffen. Für das Frühstück interessieren sich die wenigsten. Denn das kostet extra. Auf den freien Plätzen neben seinem Sitz hat Jan Zeitungen abgelegt, die den Passagieren beim Einsteigen angeboten worden waren.
Auf den Titelseiten prangt in dicken Lettern “Aufrüstung im Anti-Terror-Kampf”, “Mehr Geld für Anti-Terrorkampf gefordert” oder “Kampfansage an Terroristen”. Jan greift die oberste Zeitung und legt sie kopfüber zurück auf den Sitz. Er rümpft die Nase. Seine beklemmenden Gefühle, die ihn seit dem Check-In begleiten, hat er noch nicht abgebaut. Nach stundenlangem Warten auf dem überfüllten Flughafen hatte man die Passagiere intensiven Sicherheitskontrollen unterzogen. Jan sollte seinen Zigaretten-Anzünder registrieren lassen und in Verwahrung geben. In New York sollte er den Anzünder zurückbekommen. Großzügig verzichtete er auf das Angebot und warf den Zünder in den nächsten Mülleimer. Als vor einiger Zeit die sogenannte Ganzkörper-Kontrolle eingeführt wurde, hatte Jan sich vorgenommen, nur noch dann zu fliegen, wenn es unvermeidbar war. Die immer währenden Staus auf überfüllten Straßen und Autobahnen wollte er in Kauf nehmen. Jan hatte überlegt, mit dem Schiff nach Amerika zu reisen. Doch zwei mal je eine Woche Schiffsreise über den Atlantik kamen für ihn nicht in Frage. Also blieb ihm nur der Flieger.
Für sich und seine Reisebegleiter hat der Professor die Holzklasse gebucht. Die Universität, die seine Exkursion zu den Vereinten Nationen finanziert, hat ihm zwar einen bequemen Sitz in der Business Class zugestanden. Doch Jan hat entschieden, genau wie seine Studenten zu reisen. Nicht mehr und nicht weniger luxuriös. Weil er das günstigere Ticket wählte, können nun alle einen Tag länger in den USA bleiben: einen extra Tag zur freien Verfügung im Anschluss an Vorträge, Konferenzen und Besichtigungen.
Mindestens ein Dutzend mal hat Jan Exkursionen nach New York organisiert und begleitet. Diesmal gehören seiner Gruppe 14 Studenten der Politikwissenschaft an. Die vier jungen Frauen und zehn jungen Männer sitzen auf den Plätzen hinter Jan. Mehrere verstecken ihre Köpfe hinter Büchern oder Zeitungen. Andere reden engagiert miteinander. Sie erwecken den Eindruck, als gäbe es nichts Wichtigeres als ihr Thema. Zwei Studenten versuchen zu schlafen. Sie haben kleine, weiße Kopfkissen zwischen den Kopf und die steife Rückenlehne geklemmt. Noch kämpfen sie darum, wessen Arm auf der Armlehne zwischen beiden Holzklasse-Sitzen liegenbleiben darf.
Anna-Lena hat ihr Strickzeug mitgebracht. Ohne auf ihre schnellen Hände zu sehen, werkelt sie an einem stetig wachsenden Schal. Die junge Frau hat sich erst in letzter Minute entschieden, mit nach New York zu kommen. Das Ticket musste von den Studenten selbst bezahlt werden. Und das war ihr zu teuer. Zunächst hatte sie gesagt, sie werde nicht mitfliegen. Jan, der viel von der klugen und sympathischen jungen Frau hält, hatte versucht, Anna-Lena umzustimmen. Er hatte ihr sogar angeboten, dass er sich an ihren Kosten beteiligt. Was Anna-Lena brüsk zurückgewiesen hatte. Letztendlich konnte Anna-Lena jedoch ein paar Nachhilfestunden extra geben und das Flugticket bezahlen.
Anna-Lenas Blick wandert über die Kabinendecke nach vorn zur Miniküche der Stewardessen. Die Kellnerinnen der Lüfte haben die erste Phase ihres Service-Programms absolviert und gehen nun an Anna-Lena vorbei zu ihren Ruheplätzen im Heck der Maschine.
Anna-Lena ist neugierig. Sie versucht, sich die Reisenden näher anzuschauen. Doch die meisten sieht sie nur von hinten. Sie fokussiert dann einen älteren Mann, der seitlich am Fenster sitzt. Der Mann trägt einen weißen Vollbart und eine schwarze, lederne Kippah auf dem Hinterkopf. Er liest eine Zeitung mit hebräischen Lettern. Ein paar Sitzreihen weiter begutachten zwei dunkelhäutige Frauen in langen, bunten Saris eine Hochglanz-Zeitung mit dem neuesten Modetrend. Ein junger Farbiger, der sein knallrotes Calypsohemd über der Hose trägt, hat einen Kopfhörer über die schwarzen, gekräuselten Haare gezogen. Seine Arme und sein massiger Oberkörper zucken im Takt. Dann bleibt Anna-Lenas Blick auf dem Professor hängen.
Er ist nur von hinten zu sehen. Er beugt sich nach vorne, bewegt dann den Kopf nach hinten, hebt gleichzeitig den rechten Ellenbogen, nimmt offenbar einen Schluck Kaffee, stellt die Tasse wieder ab und lehnt sich zurück an die Kopfstütze. Anna-Lena ist sich nicht sicher, ob der Mann im hell-grauen Anzug auch wirklich ihr Professor ist. Doch dann dreht er sich überraschend um und blickt angestrengt in Anna-Lenas Richtung. Als Jan die schlanke, junge Frau im hell-blauen Pullover erkennt, lächelt er. Wie zur Begrüßung hebt Anna-Lena ihr Strickzeug in die Höhe. Dabei fällt ihr eine Strähne ihres langen, dunklen Haares ins Gesicht. Sie streift das Haar lächelnd aus der Stirn. Der Augenkontakt dauert nur wenige Sekunden. Bis Jan sich wieder umdreht und nach vorne schaut.
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