„Jau, Superurlaub. Nicht mal Fotos haben wir.“
„Wieso? Die habe ich doch schon längst runtergeladen. Guck mal hier!“
Anke hielt ihm das Notebook vor die Nase. Er sah Anke und sich, wie sie sich in einer dunklen, spanischen Kaschemme ein fettiges Küsschen gaben.
„Ich habe schon die schönsten ausgesucht und abgeschickt. Spätestens Mittwoch haben wir ein piekfeines Fotobuch zu Hause. Das wollte ich immer schon mal machen. Guck mal, geht ganz leicht. Du packst alle ausgesuchten Bilder in einen Ordner, lädst den bei diesem Fotodienst hoch und bestimmst nur noch grob das Format. Alles andere geht automatisch.“
Dierk-Helge war perplex. „Wo hast du denn jetzt die Fotos her?“
„Dreimal darfst du raten. Als du mit dem feinen Herrn diskutiert hast, habe ich kurz mal den Chip aus der Kamera gefischt und in meinem Slip versenkt.“
„Aber der liegt doch zertreten vor der Villa.“
„Quatsch, das war mein Reservechip. Hier aus dem Täschchen am Kameragurt.“
Fassungslos blätterte Dierk-Helge im Fotoalbum. Anke verschwand unter der Dusche. Als sie frisch geduscht und zum Anbeißen aufgebrezelt wieder aus dem Bad kam, saß Dierk-Helge immer noch über den Fotos.
„Komisch“, meinte er versonnen, „ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, als wenn hier irgendwas nicht stimmt.“ Er flippte durch die Fotos, vor und zurück, und verfiel in tiefes Grübeln.
„Ja, ja, los jetzt“, kommandierte Anke. „Ab unter die Dusche und dann was Ordentliches angezogen. Ist schließlich unser letzter Abend. Wir gehen wieder in dieses kleine Restaurant hinten im Hafen, wo wir am Anfang schon mal waren. Ich will unbedingt noch mal diese göttliche Zarzuela Mariña haben. Und dazu den tollen Weißwein. Albariño oder wie hieß der gleich noch mal? Aber nur eine Flasche, ich habe danach noch was vor mit dir an diesem Samstagabend.“
Auch Henry hatte noch was vor an diesem Samstagabend.
Immer deutlicher merkte er die Anspannung, die in ihm hochkroch, obwohl er sich bestimmt schon zehnmal eingeredet hatte, dass es dafür überhaupt keinen Grund gab. Aber immer, wenn er sich dem alten Zweifamilienhaus an der Schillstraße näherte, machte sich irgendwie Beklemmung in ihm breit. Zu heftig waren die Erinnerungen, zu tief die Wunden, die er mit diesem Ort verband. All das war jetzt sechs Jahre her, aber es schien nie aufhören zu wollen.
„Alles Quatsch, Henry. Kein Grund, die Ohren hängen zu lassen!“ Entschlossen umfasste er das große Paket. Kopf hoch, Schultern breit. Nina würde sich freuen, über das Geschenk und über ihn. Das stand fest und alles andere war egal. Henry öffnete das Gartentor, ging die alten Waschbetonplatten entlang ums Haus herum und direkt nach hinten zur Terrasse. Gedämpfte Rockmusik kam ihm entgegen.
„Aha, wie schön, der Herr Lütkehennerich. Auch mal wieder im Lande?“ trompetete es unerwartet von rechts. Dort vor dem Fahrradschuppen saßen zwei alte Damen auf Gartenstühlen in der Abendsonne und tranken Prosecco. Beide musterten ihn mit Blicken, die seine Bekleidung locker durchschlugen und gefühlte zwei Zentimeter unter die Oberhaut drangen. Laserscanner Dreck dagegen. Beide Omas voll durchgestylt: eine Dauerwelle pechschwarz gefärbt, die andere weiß mit leichtem Lila-Stich. Schwarzes Kostüm hier und beiger Hosenanzug dort, taufrisch aus der neuesten H&M-Kollektion. Perlen- und Goldschmuck reichlich, und auch die Duftwolke, die Henry nun entgegen waberte, lag preislich weit jenseits von 4711.
Oma Ilse und ihre Zwillingsschwester Tante Martha, im Familienkreis auch die „Golden Girls“ genannt, machten ihrem Namen mal wieder alle Ehre.
„Na ja, wenigstens nicht im Blaumann“, beendete Ilse schließlich gnädig die Generalinspektion seiner inneren und äußeren Erscheinung. „Obwohl, zu Ehren deiner Tochter hättest du dir ja auch ausnahmsweise mal was Schickes anziehen können. Ein richtiges Oberhemd und ‘ne halbwegs gesellschaftsfähige Hose. Vielleicht mal ein Jackett. Von einer Krawatte oder anständigen Schuhen will ich gar nicht erst anfangen.“ Ihr abwertender Blick klebte auf seinen ziemlich neuen Hikern, die er selbst ausgesprochen smart fand.
„Tja, Oma Ilse, ein Smoking wäre mir auch lieber gewesen, aber solchen Luxus kann ich mir nach der Trennung von deiner Tochter einfach nicht mehr leisten, tut mir leid.“
„Ach Quatsch, schick muss nicht teuer sein, guck uns an. Geh doch einfach mal anständig shoppen mit Gabi. Die weiß schon, was gut ist für dich. Und sag gefälligst nicht Oma zu mir, ich bin schließlich keine Achtzig.“
Henry hob abwehrend die Hand, verkniff sich ein Stöhnen und ließ die alten Ladies sitzen. Er war noch nicht ganz angekommen und hatte schon wieder die Schnauze voll. Die ständigen Sticheleien, die vorwurfsvollen Blicke und vor allem diese unausgesprochene Kritik, die permanent knisternd in der Luft lag.
Ilse war nicht begeistert von Henry, von Anfang an nicht. Wo ihre Tochter damals doch immer so nette, adrette junge Männer in ihrem Bekanntenkreis hatte. Raphael zum Beispiel, das wäre ein Schwiegersohn gewesen. Kultiviert, aus gutem Hause. Immer elegant und immer höflich. Drittes Semester Jura dazu, das war doch was. Fast ein Jahr ging er ein und aus, und dann geschah das Unglaubliche, das sie nicht zu hoffen gewagt hatte. Raphael stand vor ihr, vor Ilse. Mit einem Strauß roter Rosen und hielt um die Hand ihrer Tochter an.
Ilse schniefte. Noch heute kamen ihr die Tränen, wenn sie an diesen Moment dachte. Ihr seliger Wilhelm, Beamter in leitender Position, machte sofort Nägel mit Köpfen. Das Obergeschoss wurde ausgebaut, schließlich brauchten die jungen Leute ja eine Bleibe. Also Dach herunter, Drempel aufgemauert, und dann musste ein neuer Dachstuhl her. Mit großen Gauben und Fensterflächen für das junge Glück. Leider hatte ihr Wilhelm keinerlei praktische Qualitäten und war dazu noch vom Pech verfolgt, was die angeheuerten Handwerker anbetraf. Zuerst stellte sich heraus, dass die komplette Fuhre Bauholz für das Dach Blauschimmel hatte. Und dann stürzte zu allem Überfluss der Zimmermeister ab und verletzte sich schwer. Gottlob auf einer anderen Baustelle, aber der Altgeselle war nicht gerade eine Leuchte und schien seine Hilflosigkeit mit erhöhtem Bierkonsum zu kompensieren. Als er hörte, dass sein Chef länger ausfiel, meldete er sich prompt krank. Nichts passte, der Bau stagnierte, schlechtes Wetter drohte und die Dachdecker, die pünktlich erschienen waren, zogen wieder ab, da sie Folgetermine hatten.
Den jungen Zimmergesellen, der einfach plötzlich da war, als gar nichts mehr ging, schien der Himmel geschickt zu haben. Das war natürlich Quatsch, in Wirklichkeit war er gerade am Ende seiner Wanderschaft nach Gütersloh zurückgekehrt und prompt von seinem alten Lehrmeister zur Schillstraße geschickt worden, denn es hatte sich in der Innung herumgesprochen, dass hier Not am Mann war. Er war dunkelbraun gebrannt und hager. Seine abgewetzte Zimmermannskluft war geflickt und sein Charlottenburger hing in Fetzen. Der Kerl hatte lange, blonde Haare, durchgelaufene Sohlen, trug einen dicken goldenen Ohrring und roch ziemlich streng. Aber er lachte von einem Ohr zum anderen und seine Augen blitzten, als er seine Arbeitskraft anbot. Ilse rümpfte pikiert die Nase über diesen Streuner, doch sie hatte keine Wahl. Günter schritt ohne Umschweife zur Tat. In kurzer Zeit hatte er sich einen Überblick verschafft und bat Ilse und Wilhelm zum Gespräch.
Читать дальше