Zur bestandenen Matura gehört auch eine große Abschlussfeier. Ich hatte keine große Lust darauf, aber sowohl Milena als auch meine Eltern, die zwar eingeladen waren, aber nicht kommen konnten, bestanden darauf, dass ich hingehe. Es war anfangs sehr feierlich, mit einer wirklich guten Rede von Dr. Hofmann, in der er diesen Jahrgang ausführlich und treffend charakterisierte. Jeder bekam sein Zeugnis persönlich überreicht und die außergewöhnlichen Leistungen wurden besonders gewürdigt. Ich sehe noch die Tränen in den Augen von Milenas´ Eltern, als ihre Tochter als Jahrgangsbeste ausgezeichnet wurde. An jenem Abend lernte ich ihre Familie kennen und sie gaben mir gleich das Gefühl, dass ich jederzeit willkommen sei.
Nach dem offiziellen Teil wurde es lauter und fröhlicher. Alle waren ausgelassen und glücklich über die bestandenen Prüfungen, über das Ende der Schulzeit, über die Möglichkeiten, die nun vor ihnen lagen. An diesem Abend war der Saal voll von Lebensträumen, die sich nicht erfüllen würden, die zu träumen aber einen Rauschzustand erzeugten, der leicht und beschwingt macht. Ich saß da und beobachtete meine Mitschüler in ihrer Ekstase, die ich als kindisch verachtete. Mir grauste vor meiner Zukunft. Mir wurde nur allzu klar, dass ich keinen Lebenstraum mehr hatte, dass ich eine traumhafte Vergangenheit hatte, die aber für die Zukunft nicht taugte. Ihr traumhaftes Leben sollte nun beginnen, meines war schon längst zu Ende. Was sollte jetzt noch kommen?
Versunken in meinem Selbstmitleid beobachtete ich einen jungen Mann, der mich beobachtete. Es war mir aufgefallen, dass er sich nach mir erkundigt hatte und trotzdem seinen Blick immer wieder in meine Richtung ging. Was sollte das? Sicher hatte man ihm meinen schlechten Ruf berichtet und trotzdem beobachtete er mich weiter? Suchte er nach einem Fehlverhalten von mir? Diese Blicke machten mich unsicher. Noch nie hatte mich jemand so intensiv beobachtet und dabei keine Mine verzogen. Er lächelte nicht, er machte keine Anstalten, mich anzusprechen. Er beobachtete nur. Immer wieder unterhielt er sich mit einem hübschen Mädchen aus der Parallelklasse und tanzte auch mit ihr. Sie himmelte ihn an, war ganz eindeutig verliebt in ihn. Doch auch ihr gegenüber war er reserviert. Er war freundlich und lächelte auch, aber er erwiderte nicht ihr Verliebtsein. Dann beobachtete er wieder mich. Ich versuchte zu analysieren: Was konnte ihn an mir interessieren? Das Mädchen neben ihm war hübscher als ich. Was er über mich gehört hatte, konnte ihn eigentlich nur abschrecken. Wenn er nicht positiv an mir interessiert war, dann negativ. Was konnte das bedeuten? Er wollte sich über mich lustig machen. Er wollte wissen, wie jemand ist, der anders ist als die anderen und suchte nach der Bestätigung dessen, was er von den anderen gehört hatte. Das machte mir Angst. Der Abend war schon langweilig genug, er sollte nicht auch noch schrecklich werden. Daher verabschiedete ich mich von Milena und ihren Eltern und ging auf mein Zimmer. Dort angekommen wurde mir meine traurige Zukunft erst richtig bewusst. Ich war so ganz anders als die anderen, allein schon wegen meines bisherigen Lebens, dass ich wohl nie „dazu“ gehören würde. Egal wo ich sein würde. An diesem Abend fühlte ich wieder diese tiefe Einsamkeit.
Als ich gerade zu Bett gehen wollte, kam Milena durch die Verbindungstür aus ihrem Zimmer und sagte: „Vor deiner Tür steht ein netter junger Mann, der gerne mit dir reden würde.“
„Was will er? Sich über mich lustig machen?“ fragte ich aufgebracht. Es war mir sofort klar, wer dieser nette junge Mann war.
„Er ist wirklich nett. Gib ihm eine Chance, Stella. Ich habe gesehen wie ihr euch beobachtet habt, beide mit Pokerface. Eine Weile nachdem du gegangen warst, kam er an unseren Tisch und erkundigte sich, wo du denn hingegangen bist. Er war ganz traurig, als ich ihm sagte, dass du das Fest schon verlassen hast. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten und dann habe ich beschlossen, ihn hier herauf zu bringen. Ich werde jetzt wieder gehen und ihm sagen, dass er an deine Tür klopfen darf. Nutz die Gelegenheit auf ein gutes Gespräch, sie kommt so schnell nicht wieder.“ Mit einem Lächeln verließ sie mein Zimmer wieder durch unsere Verbindungstür. Wenige Augenblicke später klopfte es laut und deutlich an meine Tür.
„Ich komme gleich“, hörte ich mich rufen, als ob es das selbstverständlichste auf der Welt wäre, dabei war ich plötzlich völlig durcheinander und aufgeregt und furchtbar ängstlich vor dem, was da vor meiner Tür stand. Da stand tatsächlich ein junger Mann, der sich für mich interessierte! Und offensichtlich positiv interessierte. Mein Herz klopfte wie wild und ich wusste nicht mehr, wo mein Verstand war. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, machte ich die Tür auf und strahlte ihn an.
„Mein Name ist Francesco Della Corte und ich würde dich gerne kennen lernen“, sagte auch er etwas unsicher. „Es tut mir leid, wenn du meine Blicke als unangenehm empfunden hast. Ich habe die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet, mit dir ins Gespräch zu kommen, aber irgendwie kam die nicht und dann warst du auch schon verschwunden.“
„Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich kennen lernen möchtest.“
„Warum nicht?“ fragte er ehrlich überrascht.
„Ich habe gesehen, dass du dich nach mir erkundigt hast und da war mir klar, dass nichts positives dabei heraus kommen würde.“
„Alles was ich erfahren habe ist, dass du erst seit einem Jahr hier bist und vorher noch keine Schule besucht hast und dass es dir sehr schwer gefallen ist, dich hier einzufinden.“
„Nichts weiter?“ fragte nun ich ehrlich überrascht.
„Nichts weiter.“ Nach einer kurzen Pause wollte er wissen: „Was für negative Dinge hätte ich denn über dich erfahren können?“
„Na ja, ich…“ Doch dann beschloss ich, meine negativen Gedanken für mich zu behalten und mich auf diese positive Wendung des Abends zu konzentrieren. „Erzähl mir von dir. Warum bist du heute Abend hier?“
Er erzählte mir, dass er eigentlich gar nicht hatte kommen wollen. Die Schwester seines Freundes, die ihn eingeladen hatte, hegte offensichtlich tiefere Gefühle, die er nicht erwidern konnte. Und um ihr keine falschen Hoffnungen zu machen, hatte er zunächst abgesagt, dann aber doch die Gelegenheit genutzt, noch einmal eine Auslandsreise zu machen, bevor er für eine längere Zeit sein Land nicht mehr verlassen durfte.
„Warum nicht?“ wollte ich wissen.
„Weil ich mich zum Militärdienst verpflichtet habe.“
„Und deshalb darfst du dein Land nicht verlassen?“
„Nun ja, es ist eine besondere Aufgabe, die ich dort übernehmen werde, und dazu gehört eben, dass ich in dieser Zeit nicht ins Ausland reisen darf, es sei denn dienstlich.“
Da er offensichtlich nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte, suchte ich verzweifelt nach einem anderen. Vor lauter Aufregung und wohl auch, weil ich es nicht mehr gewohnt war, mich einfach so zu unterhalten, fiel mir nichts ein. Es entstand eine Pause, die wir beide als unangenehm empfanden. Noch immer standen wir auf dem Flur vor meinem Zimmer.
„Willst du zurück zur Feier?“ fragte er mich schließlich.
„Nein“, kam es zu schnell aus meinem Mund. Nur nicht zu den anderen, zu diesem kollektiven Rausch. Ziemlich hilflos sah ich ihn an. Er war erfahrener als ich und nutzte meine Reaktion um mit mir alleine zu bleiben. Er schlug einen Spaziergang in die Stadt vor, was mir gut gefiel. Im Gehen musste ich ihn nicht anschauen, was es mir leichter machte, einfach zu reden. Er wollte meine Geschichte hören, wollte wissen, warum ich nie eine Schule besucht hatte. Ich erzählte zuerst nur zögernd, doch als ich merkte, dass es ihn wirklich interessierte, da sprudelte alles aus mir heraus. Schließlich erzählte ich ihm auch noch von meinen Beobachtungen, die ich an diesem Abend gemacht hatte, über das sonderbare Verhalten meiner Mitschüler und wie kindisch ich das alles fand.
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