Obwohl wir so unterschiedlich waren, entwickelte sich zwischen uns doch eine tiefe Freundschaft. Mit der Zeit erkannte ich, dass auch Milena in gewisser Weise eine Außenseiterin war. Sie war tief gläubig und Mitglied einer evangelischen Sekte. Diese Gemeinschaft gab ihr einerseits Halt, andererseits galten aber auch feste Regeln, die sie nicht brechen durfte. So war ihr immer klar, dass sie nur einen Mann heiraten durfte, der ihrem Glauben angehörte. Auch in der Schweiz gab es eine Gemeinde ihrer Sekte und dort ging sie regelmäßig hin, um zu singen und zu beten und um sich Kraft und Zuversicht zu holen. Ihr fester Glaube war ein ganz wesentlicher Teil ihrer inneren Stärke und Ausgeglichenheit. Milena versuchte, mir etwas davon zu vermitteln, aber so wenig, wie ich die Lehrer und den Lehrplan einfach kommentarlos hinnehmen konnte, so wenig konnte ich Gott und die Bibel, ohne zu hinterfragen, hinnehmen. Das war eine der Eigenschaften, die ich an ihr besonders schätzte: Sie versuchte nicht, mich zu überzeugen. Sie ging ihren eigenen Weg ohne den Weg der anderen in Frage zu stellen. Sie mochte mich, mit all meinen Fehlern. Und ich lernte durch sie, was wahre Freundschaft sein kann.
Das Thema Liebe war damals für mich noch kein Thema und für Milena auch nicht, jedenfalls nicht in der Schule. So wurden wir beide von den anderen Mädchen immer ein wenig belächelt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum Milena vor mir keine wirkliche Freundin gehabt hat. Sie hat bei den üblichen Ränkespielen nicht mitgemacht, nicht mitmachen können. Dadurch stand auch sie immer ein wenig außerhalb der Klasse. Trotzdem war sie sehr beliebt, man suchte und schätzte ihre fachliche Kompetenz in allen Fächern. Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr je Neid oder Missgunst entgegengebracht wurde. Ich war leider nicht so beliebt, aber daran war ich selbst schuld. Gleich zu Anfang hatte ich geglaubt, mit meinem umfassenden Allgemeinwissen angeben zu müssen. Im Grunde war das Unsicherheit, da ich ja noch nie mit Gleichaltrigen zusammen war. Ich wusste schlichtweg nicht, wie man sich in meinem Alter verhält und tat daher einfach erwachsen, versuchte mit meinen Mitschülern so zu diskutieren, wie ich es mit meinen Eltern gewohnt war. Das wirkte natürlich sehr arrogant und schon nach einer Woche war ich endgültig unten durch. Die Freundschaft mit Milena war ein gewisser Schutz vor dem Spott der anderen, aber ich behielt meine Außenseiterposition bis zum Schluss. Mit der Zeit lernte ich, dass es besser ist, erst einmal die Klappe zu halten, alles zu beobachten und das Verhalten der anderen zu studieren, bevor man sich an einem Gespräch beteiligt.
Meine Tage waren ausgefüllt mit Unterricht und Nachhilfe. Dr. Hofmann übernahm die Nachmittagsstunden, in denen alle meine Wissenslücken zuerst analysiert und dann ergänzt wurden. Je mehr ich lernte, umso mehr wurde mir klar, wie wenig ich im Grunde wusste. Mein ganzes Selbstvertrauen schlich sich davon. Ich verlor tatsächlich den Boden unter den Füßen. Ohne meine Eltern war ich ein Nichts. Ich fühlte mich verlassen und einsam. Anfangs hatten wir noch täglich telefoniert, d.h. ich habe täglich geweint. Meine Mutter litt ebenso wie ich unter diesen Tränen. Schon nach kurzer Zeit schlug sie vor, nur noch einmal pro Woche zu telefonieren. Damals glaubte ich, sie würde mich nicht mehr lieben, doch heute weiß ich, dass es das einzig Richtige war. Ich war alt genug, um mit dieser Situation fertig zu werden. Milena war ein gutes Vorbild und Dr. Hofmann, der immer so sachlich und distanziert war, schaffte es auf diese Weise, meinen Verstand zu motivieren. Anfangs schrieb ich nur schlechte Noten. Es lag an meiner Ungeübtheit und an einer bis dahin nicht gekannten Unsicherheit. Ich war mir während der Prüfungen einfach nicht mehr sicher, ob das, was ich auf diese Frage antworten würde auch das Richtige ist. Vielleicht ist alles doch ganz anders?
Es sah so aus, als ob ein Jahr doch nicht ausreichen würde, alles das nachzuholen, was mir an schulischer Erfahrung fehlte. Man sollte die Regeln der Schule möglichst früh lernen, dann kann man sich auf die Inhalte konzentrieren. Ich war im Grunde schon zu alt, um mich einfach unterzuordnen. Dafür war auch mein Verstand zu kritisch und hinterfragte alles und jedes. Vielleicht ist es aber auch mein Wesen, mein Charakter, der sich gerne weigert, wenn ihm keine Wahl gelassen wird.
„Sie wollen also noch ein weiteres Jahr bei uns bleiben?“ fragte mich Dr. Hofmann nach etwa zwei Monaten.
„Wie kommen Sie darauf?“ fragte ich ganz erschrocken.
„Na, mit den Noten werden Sie die Matura nur mit knapper Not schaffen“, stellte er schlicht fest.
„Das reicht“, erwiderte ich kühn. Es war mir egal wie, Hauptsache war, ich schaffte es irgendwie.
„Sie wollen doch studieren?“
„Ja, und?“ Die Angst begann.
„Dazu brauchen Sie aber gute Noten, sonst wird Sie keine Universität zum Studium zulassen.“
„Wie gut?“ Die Angst beherrschte mich.
„Sehr gut.“
Ich glaube, diese Erkenntnis war der absolute Tiefpunkt in jenem Jahr. In diesem Augenblick wollte ich alles hinschmeißen und einfach wegrennen. Das würde ich nie schaffen. Auch noch sehr gute Noten schreiben! Bis dahin hatte ich tatsächlich gedacht, die sehr guten Noten, die Milena anstrebte, seien nur für ein Stipendium wichtig. (Meine Naivität hatte ihren absoluten Höhepunkt erreicht.) Die Aussicht, noch ein weiteres Jahr hier bleiben zu müssen, noch einmal denselben Unterrichtsstoff durch zu kauen, nur um bessere Noten zu erreichen, ließ all meine Hoffnungen verpuffen. Es war, als ob ich Verlängerung der Haft wegen schlechter Führung bekommen hätte.
Dr. Hofmann wusste genau, was er tat. Er hatte den Punkt erreicht, an dem ich bereit war, meinen Widerstand aufzugeben.
„Sie können es schaffen, Stella“, lockte er meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Ich habe keine Träume mehr, Dr. Hofmann“, bemitleidete ich mich selbst.
„Geben Sie es auf, in allem und jedem einen Sinn oder Zweck zu suchen. Sie machen es sich selbst viel zu schwer. Akzeptieren Sie einfach, dass die meisten Dinge, mit denen wir es im Leben zu tun haben, einfach getan werden müssen. Akzeptieren Sie, dass das meiste, was Sie hier lernen müssen, nicht unbedingt wichtig für Ihr späteres Leben ist. Nehmen Sie es als Übung für den Verstand und ersparen Sie Ihren Emotionen diese Kämpfe, es kommen noch andere Situationen, in denen Gefühl von größter Wichtigkeit ist. Sie und ich können dieses System nicht ändern. Ich kann ihnen nur helfen damit zu Recht zu kommen.“
Er sah mich eine ganze Weile an. Ich saß nur da und war völlig erschöpft. Was er sagte hörte sich gut an, ich wusste nur nicht, wie ich das umsetzen sollte. Und ob ich das überhaupt wollte. Es gab ja auch die Möglichkeit, alles hinzuschmeißen!
„Mit Ihrem Potential ist es ein Leichtes, dieses System ad absurdum zu führen. Lernen Sie es zu beherrschen, dann dient es Ihnen als Mittel zum Zweck.“
Damit hatte er meine Eitelkeit wieder zum Leben erweckt. Mein Verstand hatte die Aufgabe, die er brauchte, um genug Aufmerksamkeit für das Lernen bereit zu stellen. Von nun an ging ich völlig anders an die Aufgaben heran. Mit Hilfe von alten Prüfungsaufgaben erarbeitete ich mir den Schulstoff, der mir fehlte. Ich fragte nicht mehr, interessiert mich das? Ich versuchte nur noch zu analysieren, welche Fragen sich aus dem vorgegebenen Stoff ergeben könnten. Jedes Fach hatte seine eigene Systematik und jeder Lehrer wiederum seine eigene Herangehensweise. Je mehr ich dieses System begriff, umso mehr bewunderte ich Milena, deren eigentliche Begabung in eben jener Analyse des Systems lag. Sie hatte nicht nur die Gabe, alles sehr leicht zu lernen, sondern eben auch intuitiv zu erfassen, auf was es in den Prüfungen ankam. Und: sie war innerlich gefestigt. Meine Unsicherheit blieb. Und damit auch eine relative Fehlerquote, die es nicht erlaubte, sehr gute Noten zu schreiben. Es blieb bei einem Gut.
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