Meine eigene Wohnung kommt nicht infrage, da mein Schlüssel noch im Auto liegt. Außerdem ist das zu auffällig. Die alte Meierbusch wird sicher wieder am Fenster stehen und alles genau beobachten. Wenn ich Pech habe, wird sie mir sogar erzählen, dass ich, also mein Körper, nicht zu Hause ist. Obwohl sie Isabell kennt, wird sie alles dafür tun, mich zu verjagen. Das macht sie mit jedem Besucher, natürlich erst, nachdem sie mit ihnen über die Hausbewohner getratscht hat.
Da ich blöderweise Isis Tasche zurückgelassen habe, bin ich nicht im Besitz ihres Wohnungsschlüssels.
Nun schwanke ich zwischen Alex und Isabells Eltern, denn meine kommen nicht infrage. Meine Mutter bekäme einen Herzinfarkt, wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde. Dabei könnte ich meine Identität sicher beweisen. Mir fallen bestimmt ein paar Dinge ein, die nur ich weiß. Wobei sie vielleicht glauben würde, ich hätte sie Isabell gesteckt. Immerhin sind … nein … waren wir bis vorhin die besten Freundinnen.
Zu Isabells Eltern will ich nicht. Ihre Mutter ist mir zu anstrengend. In ihrer Gegenwart fühle ich mich unwohl. Sabine Höffner kann sich mit ihrem Alter nicht abfinden. Sie gehört zu den Frauen, die sich häufiger Botox spritzen lassen, als andere Frauen zum Friseur gehen. Außerdem ist sie viel zu eingebildet und materiell eingestellt.
Am liebsten würde ich zu Alex gehen. Er ist nicht nur Isabells Freund, ich verstehe mich mit ihm auch super. Er ist inzwischen so etwas wie mein bester Kumpel. Immer, wenn Isi mich ärgert, unterstützt er mich.
Aber du steckst in dem Körper seiner Freundin! , ermahne ich mich. Was ist, wenn er mit ihr - also mit dir - schlafen will?
Das ist ein Argument, das mich davon abhält, zu ihm zu gehen. Einen Moment lang stelle ich mir vor, wie ich ihm die Wahrheit sage. Normalerweise glaubt er mir, aber diese Sache klingt viel zu verrückt. Seine Reaktion wäre alles andere als angenehm. Wenn mir jemand diese Geschichte auftischen würde, könnte ich kein Wort davon glauben. Im Gegenteil. Ich hätte Zweifel an der geistigen Gesundheit der Person.
Ziellos laufe ich weiter, in der Hoffnung, mir fällt unterwegs noch eine Möglichkeit ein.
Verdammt!
Soll ich wieder zurückgehen und mir ihre Schlüssel holen?
Das scheint mir die beste Lösung zu sein. Widerwillig drehe ich um und laufe zurück, allerdings wesentlich langsamer. Bis zum Zusammentreffen mit Isabell will ich mich sammeln und die Tränen trocknen lassen.
Von Weiten kann ich meinen Körper sehen. Umso näher ich komme, desto bewusster wird mir, wie dick ich bin. Ich wusste ja, dass ich keine Modelfigur habe, aber von außen betrachtet werden mir die Ausmaße erst richtig klar.
Mit jedem Schritt, dem ich mich nähere, springt mir meine unförmige Figur mehr ins Auge. Plötzlich mache ich mir Sorgen um meine Gesundheit.
Was ist, wenn ich Diabetes bekomme? Oder Knieprobleme? Oder einen Herzinfarkt?
Bei der Vorstellung spüre ich Übelkeit in mir aufkommen.
Vielleicht hat Isi ja doch recht, wenn sie mich so zum Abnehmen drängt.
»Hey«, sagt Isabell, als sie mich entdeckt. »Es … Es tut mir leid!«, stammelt sie.
»Hey«, erwidere ich.
»Ich habe schon einen Abschleppwagen gerufen«, unterrichtet sie mich. »Es ist gut, dass du wieder da bist. Ich … Du … Ach verdammt! Ich als Serena habe keinen Führerschein. Du als Isabell schon.«
Ich nicke.
»Es tut mir wirklich leid!«
Wieder nicke ich nur.
»Mensch Serena, es ist mir so rausgerutscht. Ich war so wütend, weil ich in den letzten Jahren auf so vieles verzichtet habe und nun schau mich an …«
»Schon gut. Jetzt weiß ich wenigstens, was du von mir denkst.«
»Nein! So ist das nicht!«
»Isabell, halt einfach die Klappe!«, schreie ich sie an. »Ich bin nicht zurückgekommen, um mich mit dir zu vertragen. Ich brauche deinen Wohnungsschlüssel. Zu mir kann ich jetzt schlecht«, unterrichte ich sie.
»Hm. Das heißt, wir müssen also auch die Wohnungen tauschen? Verdammt! Ich weiß einfach nicht, wie das alles funktionieren soll. Wie können wir das nur wieder rückgängig machen?«
»Keine Ahnung. Ich warte jetzt mit dir auf den Abschleppwagen und dann gehe ich zu dir. Heute bin ich nicht mehr in der Lage darüber nachzudenken.«
»Ich verstehe.« Isabell tritt von einem Bein aufs andere und starrt auf die Straße.
»Guten Tag Frau Schwarz«, wird Isabell von Frau Meierbusch begrüßt, als sie an Serenas Haus ankommt. Die alte Frau schaut wie gewöhnlich aus dem Fenster und beobachtet das Geschehen auf der Straße. Damit sie das den ganzen Tag durchhalten kann, liegt ein Sofakissen unter ihren Armen.
»Guten Tag Frau Meierbusch«, antwortet Isabell und stöhnt dabei innerlich. Dieses neugierige Waschweib ist ein weiterer Grund für sie, nicht mit Serena tauschen zu wollen. Seit ihrer ersten Begegnung, als ihre Freundin damals in das Haus gezogen war, ist ihr die Frau unsympathisch. Sie beobachtet die Nachbarschaft und tratscht brühwarm alles weiter.
»Die Wolkes haben sich heute wieder gestritten. Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen«, sagt die Meierbusch, noch bevor Isabell die Haustür erreicht hat.
Sie nickt der alten Frau zu und beschleunigt ihr Tempo, dabei zerrt sie den Haustürschlüssel aus der Tasche.
Geschafft!
Sie atmet erleichtert auf, als sie den Hausflur betritt. Nun muss sie nur noch Serenas Wohnung in der zweiten Etage erreichen, ohne einem weiteren Bewohner zu begegnen. Sie hat keine Lust auf irgendwelche Plaudereien.
Isabell fragt sich, wie Serena das aushält. Ihr fällt es schwer, freundlich zu bleiben. Irgendwann würde ihr die Hutschnur platzen. Sie hätte die Meierbusch längst in ihre Schranken gewiesen. Nur ihrer Freundin zuliebe hat sie bis jetzt geschwiegen.
Insgeheim hofft Isabell, nie so eine Nachbarin zu haben. gedanklich notiert sie sich, erst die Nachbarn in Augenschein zu nehmen, bevor sie den Mietvertrag einer potenziellen Traumwohnung unterschreibt.
Isabell öffnet die Wohnungstür. Nachdem sie die Wohnung betreten und die Tür geschlossen hat, lehnt sie sich gegen die Tür und sinkt in die Hocke. Sie atmet tief ein und lässt die Tränen raus, die sie die ganze Zeit krampfhaft zurückgehalten hat. Ihr Blick wird unscharf. Sie schließt die Augen.
Sofort kommt Perry angelaufen und fordert seine Streicheleinheiten. Er reibt seinen kleinen zitternden Körper an ihren Beinen entlang und stupst sie dabei in regelmäßigen Abständen mit dem Kopf an. Doch sie zeigt keine Reaktion.
Normalerweise macht der Kater einen großen Bogen um sie. Obwohl Katzen angeblich gerade zu den Menschen gehen, die sie nicht mögen, ist es bei Perry anders.
Isabell mag keine Stubentiger. Eigentlich kann sie Tiere überhaupt nicht leiden. Ihrer Meinung nach sind sie schmutzig, übertragen Krankheiten und machen Arbeit. Also alles, auf das sie verzichten kann. Sie könnte jedes Mal schreien, wenn Serenas Klamotten mit Katzenhaaren bedeckt sind.
»Ksch, ksch«, versucht sie ihn erfolglos zu verscheuchen.
Gedankenverloren überlegt sie, was sie tun soll. Isabell ist bemüht, vor anderen keine Schwäche zu zeigen, selbst vor Serena spielt sie möglichst die Starke. Natürlich klappt das nicht immer. Vor ihrer besten Freundin hat sie schon ein paar Mal geweint. In dieser Situation will sie besonders tough sein, aber es gelingt ihr kaum. Auf so ein Durcheinander kann man sich auch nicht vorbereiten. So etwas passiert sonst nur in Filmen.
Apropos Filme!
Irgendwann hat Isabell einen Film gesehen, indem etwas Ähnliches geschehen ist. Angestrengt versucht sie, sich zu erinnern, wie das gewesen ist. Sie weiß nur noch, dass dabei ein Mann mit einer Frau die Identität getauscht hat. Aber ihr fällt beim besten Willen nicht ein, wie die beiden das wieder rückgängig gemacht haben.
Читать дальше