Aufstiege
Versuche über einige Aspekte
der Philosophie und des Zeitgeists
Robert Korn
Imprint
Robert Korn
Aufstiege
© 2019 Robert Korn
Erschienen bei www.epubli.de, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de
I. Sonnenfahrt Sonnenfahrt
II. Aufstiege Aufstiege
III: „Bürger zweier Welten“ Aufstiege Versuche über einige Aspekte der Philosophie und des Zeitgeists Robert Korn
IV. Kantianer, Fichteaner und Naturphilosophen Aufstiege Versuche über einige Aspekte der Philosophie und des Zeitgeists Robert Korn
Ein imaginäres Interview mit Heinrich Heine
V. Literaturverzeichnis Aufstiege Versuche über einige Aspekte der Philosophie und des Zeitgeists Robert Korn
Sonnenfahrt
Jeanne Hersch
„Wie kann man sich das Sein in seiner Fülle vorstellen? Parmenides fasst es auf als ungeschaffen, unwandelbar. Was könnte sich im Sein wandeln, das ein volles, einheitliches Sein ist? Wandel setzt Spielraum voraus, eine Leere, ein Anderes. Aber es gibt kein Anderes im Sein. Wenn wir einen Koffer packen, müssen wir ihn ganz füllen, dann bewegt sich kein Stück in dem Koffer.“
Als die Frau im Wagen von dem Autofahrer hinter ihr angehupt wird, streckt sie abrupt den Mittelfinger hoch.
Bei dieser Filmszene erinnerte ich mich plötzlich wieder an die drei jungen Frauen, die ich für mich „Sonnenmädchen“ genannt hatte. „Bestimmt hätte jede von ihnen“, dachte ich, „auf das Verhalten des Mannes ganz anders reagiert.
Einige Zeit später ertönte in dem Film ein Lied, das mir unerträglich sentimental vorkam. „Erst Vulgarität, jetzt Sentimentalität!“, sagte ich mir und beschloss, mir den Film nicht weiter anzuschauen. Rasch erhob ich mich von meinem Sessel und drehte der Leinwand den Rücken zu.
Aus einer runden, blendenden Lichtquelle im Hintergrund des Kinosaals ergoss sich ein kegelförmiger Lichtschein. Die Zuschauer vor mir lagen halb in ihren Sesseln, halb saßen sie darin. Trotz des Halbdunkels konnte ich gut erkennen, dass sie gebannt dem Filmgeschehen folgten. Mit Trippelschritten bewegte ich mich zum Seitengang hin, wobei ich mich gleichzeitig leise bei den von mir passierten Zuschauern für meine Störung entschuldigte.
Am Ende der Sitzreihe angelangt, ging ich vorsichtig den nur schwach erleuchteten Seitengang hinunter. Jeder Platz im Kinosaal schien besetzt zu sein. Dazu hatten sicherlich die vielen positiven, z.T. sogar überschwänglichen Kritiken des Films in den verschiedenen Medien erheblich beigetragen.
Ich war froh, als ich schließlich die Tür des Kinosaals hinter mir schließen konnte. Während mich die steil nach unten führende Rolltreppe zum Foyer des Kinos brachte, dachte ich: „Sentimentalität ist oft nur eine Kompensation der eigenen Gefühlsarmut.“
Die Straße vor dem Kino lag im warmen Sonnenlicht eines langsam zu Ende gehenden Spätsommertags. Außer mir war auf dem gepflasterten Bürgersteig niemand unterwegs. An den hoch aufragenden Bäumen auf der anderen Straßenseite rührte sich kein einziges Blatt. Es kam mir vor, als wären sie gerade in tiefes Nachdenken versunken. Mein Ziel war die nächstgelegene Straßenbahnhaltestelle, von der aus ich über eine Umsteigestation nach Hause fahren wollte.
Ich sah schon von weitem, dass auf der Bank in dem gläsernen Wartehäuschen die drei von mir als „Sonnenmädchen“ bezeichneten Frauen saßen, die ich heute Nachmittag in einem Café kennengelernt hatte. Das Gespräch mit ihnen hatte ich als geradezu herzerfrischend empfunden.
Sobald ich das Wartehäuschen betrat, begrüßten sie mich so freundlich, dass ich jeder von ihnen unwillkürlich die Hand gab. Da sie im Café erwähnt hatten, sie würden am späten Nachmittag eine Kunstausstellung besuchen, fragte ich sie, wie ihnen diese gefallen habe. „Sehr gut!“, antworteten sie im Chor. Hierbei schüttelten sie leicht ihre langen hellblonden Haare.
Einen Moment lang blickte ich auf den Kunstkatalog, der auf dem Schoß der in der Mitte sitzenden Frau lag. Auf der Vorderseite des Katalogeinbands war ein Bild abgedruckt, das eine mit breitem Pinselstrich schwarz umrandete Fläche zeigte.
„Interessieren Sie sich für Malerei?“, fragte mich die Frau in der Mitte mit ihrer klaren Stimme. „Mehr als an Malerei“, antwortete ich, „bin ich an Musik interessiert.“ „Könnten Sie uns vielleicht trotzdem sagen“, wandte sich darauf die ganz rechts sitzende Frau an mich, „wie Sie das Katalogbild hier deuten?“
Ich bejahte ihre Frage und sah mir das Bild noch einmal einen Augenblick an. Dann richtete ich wieder meinen Blick auf die drei jungen Frauen, die mich von der Bank aus erwartungsvoll anschauten. In einigem Abstand von ihnen stehend, fiel mir erst jetzt auf, dass sie alle zu ihren luftigen, hellen Sommerkleidern die gleichen weißen Turnschuhe trugen.
„Auf mich“, sagte ich, „wirkt das Bild wie ein trauriger Notenkopf.“ „Dazu passt gut“, erklärte die ganz links sitzende Frau, „ wie wir drei das Bild auffassen. Wir halten es nämlich für die Darstellung einer gefangen genommenen Sonne.“ Nach einer kurzen Pause fragte ich die drei Frauen, wie man die Sonne befreien könne. „Auf vielerlei Art“, antwortete mir jetzt wieder die junge Frau in der Mitte. „Eine davon“, betonte sie, „ist die Kunst.“
Plötzlich ertönte ganz in der Nähe ein Quietschen. Ich
drehte mich um und sah, dass gerade eine Straßenbahn an unserer Haltestelle anhielt. Beim Blick auf die Nummer wusste ich, dass es nicht die Linie war, die in Richtung meiner Wohnung fuhr.
„Das ist unsere Straßenbahn!“, rief auf einmal eine der Frauen hinter mir. Als ich den Kopf wieder zu ihnen hindrehte, waren sie schon von der Bank aufgesprungen. „Schade! Adieu!“, riefen sie gemeinsam und liefen zu der offen stehenden Straßenbahntür. Kaum waren sie eingestiegen, winkten sie mir zum Abschied vom Mittelgang aus sehr freundlich zu. Die silbergrau angestrichene Straßenbahn war schon beinah ganz in die nächste Straße eingebogen, als plötzlich eine rückwärtige Stelle ihrer Karosserie in der Sonne aufblitzte.
Nunmehr allein in dem Wartehäuschen, setzte ich mich auf die leer gewordene Bank. „Ja, schade!“, sagte ich mit einem Male halblaut zu mir selbst. Die drei Frauen wussten nicht, dass ich heute Abend kurz ein nahegelegenes Kino besucht hatte. Gerne hätte ich noch mit ihnen über den dort gerade laufenden Film gesprochen.
Der elektrischen Anzeigetafel neben dem Wartehäuschen entnahm ich, dass meine Bahn bald eintreffen würde. Das Abteil, in das ich schließlich einstieg, war unbesetzt. Von meinem Fensterplatz aus sah ich nach einiger Zeit, wie zwei Kinder über eine neben der Straße gelagerte schwarze Röhre balancierten. Ihr Gesichtsausdruck zeigte mir, dass sie ganz von ihrer augenblicklichen Tätigkeit erfüllt waren.
Während ich an der letzten Haltestelle vor meiner Umsteigestation auf die Weiterfahrt der Straßenbahn wartete, erblickte ich durch das Fenster an einer Litfaßsäule ein großes Plakat, worauf für den Musikfilm geworben wurde, von dem ich mir heute Abend einen Teil angeschaut hatte. Auf dem Werbeplakat waren eine junge Frau und ein Mann zu sehen, die jeweils eine heftige Tanzbewegung mit diagonal ausgestreckten Armen vollführten. Unterhalb der Anhöhe, worauf sie tanzten, erstreckte sich das Lichtermeer einer Großstadt, während sich über ihnen ein nächtlicher Himmel wölbte. Die Sterne darin wirkten wie winzige Sprenkel.
„Noch heute werde ich mit ihr über den Film sprechen“, nahm ich mir plötzlich vor, als sich die Straßenbahn wieder in Bewegung setzte. Mit „ihr“ meinte ich eine Freundin von mir, die sich viel mehr als ich für Kinofilme interessierte.
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