Robert Korn - Die Prüfung

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In der Erzählung «Die Prüfung» wird dargestellt, wie die Verleumdung einer Fünfzehnjährigen zur Prüfung für einen jungen Mann wird.
Bei dem Versuch, sie zu überstehen, hilft ihm seine Freundin mit drei verschiedenen «Technologien des Selbst» (Michel Foucault): mit einer «Sieben Weisen-», einer «Shakespeare-» und einer «Chaplin-Therapie».
Gegen Ende der Geschichte wird erzählt, dass der junge Mann – er ist inzwischen als Aushilfslehrer tätig – nach einer alkoholischen Ausschweifung erkennt, in seinem Verhalten gegenüber seiner Verleumderin einen Fehler gemacht zu haben.

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Robert Korn

Die Prüfung

Erzählung

Die Prüfung

Robert Korn

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Copyright: © 2021 Robert Korn

Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

I.

Es klingelte. P. erhob sich von seinem Stuhl und öffnete kurz darauf die Tür.

Zu seinem Erstaunen stand die Nachbarin aus dem obersten Stock vor ihm, mit der er zuletzt auf dem schon länger zurückliegenden Hausfest gesprochen hatte.

„Entschuldigung!“, sagte sie mit angespannter Miene.„Kann ich Sie einen Moment in Ihrer Wohnung sprechen?“ „Bitte, treten Sie ein!“, antwortete P. Sobald die Nachbarin, eine Frau mittleren Alters, an ihm vorbeigegangen war, schloss er die Tür und folgte der Frau durch seinen kleinen Flur. Erst jetzt sah er, dass sie einen weißen, modisch geschnittenen Hosenanzug trug.

Im Zimmer angelangt, deutete P. auf das rechts vor der Wand stehende Sofa, vor dem ein kleiner, weißer Couchtisch stand. Nach wenigen, raschen Schritten setzte sich die Frau aufs Sofa, streifte von ihrer Schulter die goldfarbene Kette ihrer rechteckigen Umhängetasche und legte diese dicht neben sich.

„Ich komme gerade vom Elternsprechtag“, sagte sie, nachdem sich P. auf einem Korbsessel niedergelassen hatte, den er aus einer Ecke seines Zimmers geholt hatte. „Zu meinem Erschrecken“, fuhr die Frau fort, „habe ich erfahren, dass die Mathe-Leistungen meiner Tochter wieder so schlecht sind, dass sie zum zweiten Mal sitzenzubleiben droht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie als Mathematikstudent ihr bis zum Ende des Schuljahres Nachhilfe geben könnten. Sie sollen hierfür“, ergänzte die Frau noch, „auch gut bezahlt werden.“ Bei ihren beiden letzten Sätzen hatte sie P. beinah flehentlich angeblickt.

P. konnte der Frau nicht sogleich antworten. „Mein Examen“, sagte er sich, „ist noch nicht ganz abgeschlossen.“ Während er weiter überlegte, ob er der Bitte der Nachbarin entsprechen könne, bemerkte er, dass sich die dunklen Augen der ihm gegenübersitzenden Frau immer mehr verengten. In dem Augenblick, wo ihm schien, dass sie fast schon einen bösartigen Ausdruck annahmen, sagte er: „Sie haben Glück! Da ich, wie mir gerade klargeworden ist, mit der Vorbereitung auf meine mündliche Philosophie-Abschlussprüfung schon recht weit gekommen bin, kann ich Ihrer Tochter auch zweimal wöchentlich Nachhilfe geben.“

P. sah, dass sich die Augen der Frau schlagartig wieder weiteten. „Danke!“, sagte sie geradezu freudestrahlend. Hatte sie vorher mit stark angewinkelten Beinen dagesessen, so schlug sie jetzt eines über das andere.

„Auch ich“, sprach sie, „bin schuld daran, dass meine Tochter in der Schule so schlecht ist. Seit ich vor zwei Jahren zur Projektleiterin ernannt worden bin, habe ich nur noch wenig Zeit, mich um meine Tochter zu kümmern. Hinzu kommt, dass sich mein werter Ex-Mann fast gar nicht an der Erziehung unserer Tochter beteiligt. Ich hoffe“, sagte sie und stockte.

In ihrer Umhängetasche klingelte mit einem Mal ihr Smartphone. Kaum hatte die Frau auf das Display geschaut, sagte sie zu P.: „Einen Moment, bitte!“ und nahm dann den Anruf an. „Ich rufe Sie möglichst bald zurück!“, beendete sie nach wenigen Worten ihr Gespräch. „Ich muss leider gleich ein dringendes geschäftliches Telefonat führen!“ wandte sich die Frau wieder an P.

Sowie sie mit ihm zwei wöchentliche Termine für die Nachhilfe vereinbart und ihm einen tatsächlich guten Stundenlohn genannte hatte, griff sie nach ihrer Tasche und stand ruckartig vom Sofa auf. „Nochmals danke!“, sagte sie, ohne P. dabei anzusehen.

Mit schnellen Stöckelschuhschritten verließ sie die Wohnung.

II.

Kurz vor drei Uhr klappte P. das Buch zu, worin er gerade ein Kapitel über Bias gelesen hatte, einen der sogenannten Sieben Weisen. Um deren Lehren sollte es im ersten Teil seiner mündlichen Philosophieprüfung gehen. Auf den zweiten Teil, dessen Thema viel schwieriger war als das des ersten, hatte er sich schon vorbereitet.

P. ergriff das Buch vor ihm und stellte es kurz darauf wieder in sein links neben der Tür stehendes Bücherregal zurück. Dann ging er über den Flur in seine kleine Küche, von wo aus er einen der beiden dort stehenden Küchenstühle bis zu seiner Schreibtischplatte trug, die auf zwei voneinander entfernten Schubladenelementen ruhte. Nachdem er den Küchenstuhl neben seinem gepolsterten Bürostuhl abgesetzt hatte, entnahm er einer Schublade einen Block mit karierten Blättern und legte ihn auf die Schreibtischplatte.

„Ich werde ihr den bequemen Bürostuhl anbieten, damit sie sich hier willkommen fühlen kann“, dachte P. und setzte sich auf das Sofa, um dort auf die Ankunft seiner Nachhilfeschülerin zu warten. Als sie nach zehn Minuten immer noch nicht erschienen war, wurde er unruhig. Er erhob sich und trat rechts neben der Schreibtischplatte ans Fenster. Von da aus blickte er eine Weile auf die schwach befahrene Straße hinab, die vor dem Haus verlief, worin er wohnte.

Er wollte sich schon vom Fenster abwenden, als er plötzlich sah, dass eine blaue Vespa mit zwei Jugendlichen vor dem Haus hielt. Die weibliche Beifahrerin stieg von der Vespa herunter, nahm ihren silbern glänzenden Helm ab und fuhr sich dann zwei- oder dreimal mit gespreizten Fingern durch ihre langen, dunkelblonden Haare. P. erkannte, dass es sich bei dem Mädchen um seine Nachhilfeschülerin handelte. Nachdem sie ihren Helm in der hinter dem Vespasitz montierten Helmbox verstaut hatte, ging sie zu dem Fahrer und küsste ihn so lange und ungestüm, als müsste sie sich von ihm für immer trennen.

Schließlich hörte es P. an seiner Tür klingeln. Wie er erwartet hatte, stand vor ihr seine Nachhilfeschülerin. Er begrüßte sie mit einem kurzen „Hallo!“ und bat sie einzutreten. Im Zimmer angelangt, schaute er auf seine Armbanduhr und teilte dem Mädchen mit, dass laut Absprache mit ihrer Mutter die Nachhilfestunde schon vor fünfzehn Minuten hätte beginnen sollen. „Tut mir leid!“, sagte das Mädchen mit betont treuherzigem Augenaufschlag, „der Bus, mit dem ich gekommen bin, stand im Stau.“

„Seit wann fahren Busse auf zwei Rädern“, wollte P. sagen, unterließ es jedoch, um die erste Nachhilfestunde nicht in einer Missstimmung zu beginnen. Stattdessen wies er auf den Bürostuhl und bat das Mädchen, dort Platz zu nehmen. Bevor sie es tat, nahm sie ihren rotfarbenen Rucksack ab und stellte ihn neben ihrem Sitzplatz auf dem Boden ab. Als sie schließlich nebeneinander vor der Schreibtischplatte saßen, drehte sich P. leicht zu dem Mädchen hin und fragte sie nach dem derzeitigen Thema ihres Mathematikunterrichts.

Eine Zeitlang blickte sie angestrengt durch das Fenster vor ihnen. Dann sagte sie lediglich: „Altersaufgaben.“ „Kannst du mir ein Beispiel dafür geben?“, fragte P. und erhielt von dem Mädchen eine Antwort, mit der er nur wenig anfangen konnte. Er bat sie deshalb, ihm ihr Mathematikbuch und Mathematikheft zu geben. Nach einem kurzen Blick in ihren vorher hochgehobenen Rucksack hob sie bedauernd die Schultern. „Leider“, sagte sie, „habe ich vergessen, das Buch und das Heft aus dem Schulspind mitzunehmen.“

Kaum hatte das Mädchen den Rucksack wieder auf den Boden gestellt, kam P. eine Idee. Er zog sein Tablet, das rechts von ihm auf der Schreibtischplatte lag, zu sich heran und gab wenig später in das Suchfeld die Begriffe „Altersaufgaben“ und „8. Klasse“ ein. Nach dem Anklicken des ersten auf dem Bildschirm erschienenen Links öffnete sich dort eine Seite, worauf zuoberst der folgende Text stand:

„Regina ist 5 Jahre älter als ihre Schwester Hannah. In 20 Jahren ist sie doppelt so alt, wie Hannah heute ist. Wie alt sind die beiden heute?“

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