P. klappte das Heft zu, legte es neben das Mathematikbuch und wandte sich wieder zu dem Mädchen. Sie scrollte gerade eine Seite auf ihrem Smartphone herunter. Doch kaum hatte P. sie angeblickt, legte sie es links neben sich auf der Tischplatte ab.
„Hast du“, fragte P., „auch daran gedacht, meine Übungsaufgaben zu lösen?“ „Ja, natürlich!“, antwortete das Mädchen sofort, schüttelte einen Moment lang ihre Haare und beugte sich hierauf zu ihrem Rucksack hinab. Nach kurzer Suche darin zog sie das inzwischen knittrig gewordene Arbeitsblatt heraus und überreichte es P. Der strich es erst einmal auf der Arbeitsplatte glatt. Dann ging er mit konzentrierter Miene die Lösungen der Aufgaben durch.
„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte er schließlich lauter als beabsichtigt und schaute dabei das Mädchen anerkennend an. „Du hast“, fügte er mit etwas leiserer Stimme noch hinzu, „alle Aufgaben richtig gelöst.“ Das Mädchen wandte den Blick kurz ab, nachdem sich ihr Gesicht bei P.s Äußerung leicht gerötet hatte.
P. beschloss, zur Einstimmung auf die heute wieder anstehende Behandlung der Altersaufgaben die Schülerin erst einmal lineare Gleichungen mit nur einer Unbekannten lösen zu lassen. Er zog deshalb den auf der Schreibtischplatte liegenden Rechenblock zu sich heran und schrieb darauf die folgende Aufgabe: x + (x + 6) + (x + 4) - 2 = 20.
Sobald P. den Block wieder zu der Schülerin hingeschoben hatte, löste diese, wie P. von der Seite aus sehen konnte, zügig die Klammern auf und vereinfachte danach auch schrittweise die Gleichung. An der Stelle jedoch, wo: 3x = 12 stand, stockte sie plötzlich und begann, sich wieder mit den Fingernägeln ihren linken Oberschenkel zu kratzen.
Anders als bei ihrer letzten Nachhilfestunde trug sie jetzt keine Jeans mehr, sondern einen rot karierten Faltenrock, der einen Großteil ihrer Oberschenkel unbedeckt ließ. Auch bei der Färbung ihrer Fingernägel war inzwischen eine Änderung eingetreten. Statt lila waren sie nun schwarz lackiert.
„Um die Gleichung nach x aufzulösen“, sagte P. schließlich zu der Schülerin, „musst du beide Seiten der Gleichung durch 3 teilen.“ „Ja, klar!“, rief sie, überlegte kurz und schrieb dann in ihrer ausladenden Schrift: x = 4 hin.
„Was“, sagte sich P. plötzlich, „wenn sie die Lösungen der Übungsaufgaben nur von ihrem Freund oder irgendeinem anderen abgeschrieben hat?“ Um ihre Leistung nicht leichtfertig anzuzweifeln, verzichtete P. vorerst darauf, dem Mädchen seinen Verdacht mitzuteilen. Stattdessen warf er einen Blick auf das unweit von ihm liegende Übungsblatt und prägte sich die erste der dort stehende Aufgaben ein. Gleich darauf diktierte er sie dem Mädchen neben sich.
Es stellte sich heraus, dass es ihr auch bei dieser Aufgabe nicht gelang, sie ohne eine Hilfestellung von P. zu lösen. „Hast du“, fragte P. vorsichtig, „die Aufgaben auf dem Übungsblatt“ - er deutete mit der Hand auf das Blatt rechts von ihm - „auch ganz selbständig gelöst?“
Abermals wurde die Schülerin rot, doch nun viel stärker als beim ersten Mal. „Natürlich habe ich sie allein gelöst!“, sagte sie heftig und wandte den Blick wie schon bei ihrem vorherigen Erröten wieder ab. „Wie erklärst du dir dann“, fragte P. das Mädchen in begütigendem Tonfall, „dass du gerade eine Gleichung nicht selbständig lösen konntest, die hier auf dem Übungsblatt richtig berechnet wurde?“
Für einen Moment schwieg das Mädchen. Dann richtete sie ihrer Augen wieder auf P. Dabei fiel ihm zu seiner Verwunderung auf, dass inzwischen alle Röte aus dem Gesicht des Mädchens gewichen war. „Ich hatte heute“, erklärte sie mit betont leiser Stimme, „einen anstrengenden Vormittag in der Schule. Außerdem kann ich mich bei der Hitze nur schlecht konzentrieren.“
Tatsächlich herrschten seit zwei Tagen draußen hochsommerliche Temperaturen. Als P. einen Augenblick auf die von der Sonne beglänzten Blätter der Baumkrone vor seinem Haus blickte, hatte er plötzlich einen Einfall. „Möchtest du“, fragte er das Mädchen, „ein Glas kühles Mineralwasser trinken?“ „Gern“, sagte sie, worauf sich P. erhob und in die Küche ging.
Sich mit zwei vollen Gläsern wieder der Schreibtischplatte nähernd, sah er, dass das Mädchen inzwischen aufs Neue nach ihrem Smartphone gegriffen hatte und gerade interessiert auf das Display blickte. Bevor er die Gläser auf der Platte abstellte, konnte P. noch erkennen, dass auf dem Display Sneakers einer bestimmten Marke zu sehen waren. Das Mädchen legte ihr Smartphone wieder auf die Tischplatte, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas und sagte: „Danke!“
Nachdem P. ebenfalls einen großen Schluck getrunken hatte, zog er das vor ihm aufgeschlagen liegende Mathematikbuch zu sich heran und wählte aus den drei noch nicht in der Klasse des Mädchens behandelten Altersaufgaben die seiner Meinung nach leichteste aus.
Es dauerte lange, bis das Mädchen mit häufigen Hilfestellungen von Seiten P.s die Aufgabe gelöst hatte. Um es nicht mit einer weiteren Textaufgabe zu überfordern, beschloss P., sie nun einfach drei Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen zu lassen.
Gegen Ende der Stunde holte er aus der Schublade seines rechten Schubladenelements ein Übungsblatt hervor, das zwei aus dem Internet ausgewählte Textaufgaben enthielt. Als er dem Mädchen das Blatt überreichte, sah sie ihn zwar nicht wie gegen Ende der ersten Nachhilfestunde grimmig an, zerknitterte dafür aber das Blatt beim Einstecken in ihren roten Rucksack, als ob sie es geradezu misshandeln wollte.
Trotzdem bat P. sie noch, sich mit den Übungsaufgaben so gründlich auseinanderzusetzen, dass sie in der Lage sei, sie zu Beginn der nächsten Stunde ganz selbständig zu lösen.
„Aber gewiss doch!“, erklärte das Mädchen in übertrieben beflissenem Ton, stand auf, hob ihren Rucksack hoch und eilte dann in Richtung Tür. Ohne sich von P. verabschiedet zu haben, schloss sie die Tür geräuschvoll.
P. hatte in der Küche zu Ende gefrühstückt, als er in seinem Zimmer das Telefon läuten hörte. Auf dem Weg dorthin fiel sein Blick kurz auf die Schreibtischplatte, worauf ein Buch namens „Technologien des Selbst“ lag. Es enthielt einen gleichnamigen Aufsatz von Foucault, den P. heute noch vor seiner vormittäglichen Verabredung mit seiner Freundin zu Ende lesen wollte.
Vor seinem Bücherregal angekommen, griff P. nach dem Hörer auf der Ladestation, die auf der ansonsten leeren Hälfte eines Regalbretts stand. Am anderen Ende der Leitung meldete sich unerwartet die Mutter seiner Nachhilfeschülerin.
Nachdem sie sich begrüßt hatten, sagte die Frau, ihre Tochter habe ihr gerade mitgeteilt, dass sie sich heute früh im Bad übergeben habe. „Das tut mir sehr leid!“, sagte P. betroffen. „Ihr Mitgefühl“, erwiderte die Frau in plötzlich kühlem Ton, „kommt leider zu spät.“ „Ich verstehe nicht, was Sie meinen“, sagte P. verwirrt. „Meiner Tochter“, hob die Frau ihre Stimme, „geht es schlecht, weil sie, wie sie mir soeben anvertraut hat, Angst vor Ihrer Nachhilfe hat.“ Unwillkürlich trat P. einen Schritt zurück und fragte zweifelnd: „Angst?“ „Ja, Angst!“, bekräftigte die Frau und fügte noch laut hinzu: „Vor Ihnen!“
P. spürte, wie die Hand, mit der den Hörer gegen sein Ohr drückte, leicht zitterte. Doch er fasste sich schnell und erwiderte: „Ich kann mich nicht erinnern, Ihrer Tochter einen Grund dazu gegeben zu haben.“ „Dann werde ich Ihrem Gedächtnis einmal nachhelfen. Meine Tochter hat mir nämlich erzählt, Sie hätten Ihr während der Nachhilfestunde unterstellt, dass sie nicht intelligent genug sei, Ihre Übungsaufgaben allein zu lösen.“
P. drehte sich mit einer abrupten Bewegung auf der Stelle um 180 Grad und schaute nun nicht mehr auf das Bücherregal, sondern in Richtung Fenster.
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