Sie dachte, dass sie noch auf jemanden warteten, als Colonel Lewis sich plötzlich räusperte, die Anwesenden durch seine Nickelbrille nacheinander musterte, als sei er überrascht, sie in diesem Raum anzutreffen, und die Sitzung eröffnete: »Meine Damen und Herren, wir haben da eine Situation, die mit einer Anfrage unserer Kunden zusammenhängt und aufgrund externer Ereignisse dringenden Handlungsbedarf hat. Es geht, wie sie sicher schon erraten haben, um den Beweis, dass P=NP ist.«
Chris Harris starrte seinen Chef an, als habe er ihm erklärt, vor dem Weißen Haus sei eben ein UFO gelandet, aus dem Elvis Presley gestiegen sei. Lewis war kein Mathematiker, aber er war ausgebildeter Kryptanalytiker, wenn auch kein praktizierender. Er war durch die Kryptologieschulen des Geheimdienstes der Navy und der NSA gegangen und wusste sehr wohl, was er angedeutet hatte. Normalerweise pflegte man sich in ihrer Zunft vorsichtiger auszudrücken, schließlich bestand ein Großteil ihrer Arbeit darin, Vermutungen und Fakten voneinander zu unterscheiden, statt sie miteinander zu vermischen.
»Vielmehr gibt es Hinweise darauf, dass der Ansatz von diesem Alexei Lehmann stimmiger als andere sein könnte und wir der Sache nachgehen sollten«, ergänzte Colonel Lewis, um den ›Aufhänger‹ für das Treffen wieder zu relativieren. Er wies auf Veronica, der die neugierigen Blicke der Besucher unangenehm waren. »Doktor Black hat ja diesbezüglich auch schon ihr Interesse bekundet.«
Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, sagte dann aber doch nichts. Bevor sie wusste, um was es eigentlich ging, war es wohl besser, sich aufs Zuhören zu beschränken. Sie hoffte außerdem, dass Chris für sie einsprang.
Lewis stellte seine Tischnachbarn vor. »Das ist Colonel Wilbur Jones von der Abteilung für spezielle Zieloperationen und diese beiden Herren kommen von der CIA, Chief Special Agent Simmons und Special Agent Price. Sie sind gewissermaßen unsere ›Kunden‹ und haben in dieser Angelegenheit weitere Informationen aus ihren eigenen Quellen, die auch den Grund für diese Dringlichkeitssitzung liefern.«
Die beiden nickten ihnen geschäftsmännisch zu, und Lewis stellte Chris Harris förmlich als Leiter der Abteilung R12 vor. Dann holte er aus einem separaten Umschlag sechs frisch ausgedruckte Dokumente und ließ sie auf routinierte Weise den Anwesenden über den Tisch zugleiten. Sie trugen das Siegel der NSA und waren mit dem Kürzel ›TS‹ für ›streng geheim‹ sowie mit dem Codewort ›MURMELTIER‹ versehen. Das war die höchste Geheimhaltungsstufe, bei der die Informationen streng voneinander getrennt wurden. Eine Sicherheitszulassung allein bedeutete nicht, dass sie die Dokumente einsehen durften – dazu musste noch kommen, dass sie für den Vorgang MURMELTIER zugelassen waren, was nun offensichtlich der Fall war. Unüblicherweise stand darunter ein als weiterer Name ›Operation ALPINER SONNENUNTERGANG‹, ein Spitzname, der von der CIA stammen musste, bei der Bezeichnungen aus zwei Wörtern üblich waren. Veronica überflog das Dokument, das aus zwölf Seiten und einigen angehängten Bildern und Exzerpten bestand.
»Am besten, ich überlasse Special Agent Simmons das Wort, der die Aktion bei seiner Behörde leitet.«
Veronica fiel auf, dass weder Simmons noch sein Kollege Price der Akte besonderes Interesse schenkten. Sie kannten ihren Inhalt schon.
»Danke, Colonel. Nun, ich will mich kurzfassen, weil die Zeit drängt. Wir haben Grund zu der Annahme, dass ein gegnerischer Geheimdienst zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Beweis von diesem Alexei Lehmann echt ist.«
»Was meinen sie mit ›echt‹?«, warf Veronica dazwischen und biss sich auf die Lippe. Sowohl Lewis als auch sein Kollege von den speziellen Zieloperationen wirkten über den Einwurf wenig erfreut.
Simmons hingegen lächelte ihr freundlich zu, wohingegen seinen rotblonden Kollegen die berechtigte Nachfrage eher zu amüsieren schien. »Sie haben recht, Frau Doktor Black, ich habe mich flapsig ausgedrückt. Wie sie wissen, haben auch wir eine Abteilung für Kryptologie, und unsere Analytiker sind der Meinung, dass der Beweis, wie sagt man, schlüssig sein könnte. Wichtiger noch, unsere Gegner scheinen diese Meinung zu teilen. Aber das ist nicht alles. Alexei Lehmann ist vor zwei Tagen plötzlich von unserem Radar verschwunden, was an sich schon Grund zur Beunruhigung ist, und heute Morgen haben wir mithilfe ihrer Behörde erfahren, dass bei einem guten Freund von Lehmann, einem weiteren deutschen Staatsbürger namens ›Moritz Blau‹, eingebrochen worden ist. Wir sind uns ziemlich sicher, dass die Einbrecher Profis von der GRU gewesen sind. Sie haben seine Wohnung in München auf den Kopf gestellt und seine Computer eingepackt.«
»Woher wissen sie das?«, erkundigte sich Colonel Lewis.
»Die Vorgehensweise spricht dafür, und außerdem haben wir Quellen, die uns auf entsprechende Aktivitäten im Raum München sehr eindeutig hingewiesen haben. Das ist ungewöhnlich, in Berlin spielt sich heutzutage viel mehr ab, wenn man mal von gezielten Angriffen auf die deutscheuropäische Rüstungsindustrie absieht. Die übrigen Informationen stammen von ihnen selbst.«
»Richtig«, ergriff Colonel Jones das Wort. »TAO hat Zugriff auf das deutsche POLIS-System, so viel darf ich ihnen verraten, das wissen sie ja sowieso schon alle. Die örtliche Kriminalpolizei hat eine Liste der verschwundenen Gegenstände eingegeben. Sie vermuten Versicherungsbetrug, weil das Schloss nicht aufgebrochen war. Wir sind uns außerdem ziemlich sicher, dass die deutsche Spionageabwehr, das Bundesamt für Verfassungsschutz, sich der möglichen Bedeutung von Lehmanns Arbeit bewusst ist und möglicherweise ebenfalls in Richtung dieses ...« Er las den Namen mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck vom Papier. »... ›Moritz Blau‹ ermittelt. Natürlich arbeiten sie nicht mit der Polizei zusammen.«
Wie auch Chris Harris studierte Veronica angesichts dieser neuen Informationen die Akten, die viel umfangreicher als ihre eigenen Recherchen waren. Sie enthielt Bilder und angehängte Lebensläufe von den Zielpersonen, die beide sehr ausführlich und offenbar schon von einem Analytiker gekürzt worden waren. Die Genauigkeit der Angaben deutete darauf hin, dass TAO sich Zugriff auf die Personalakten ihrer Arbeitgeber, auf persönlichen Telefonate und ihre Computer verschafft hatte. Sie standen also nicht erst seit gestern unter Überwachung. Die Anhänge enthielten ebenfalls verkürzt wiedergegebene Listen von Suchbegriffen und Webseiten, die Lehmann und Blau in den letzten Wochen aufgerufen hatten, sowie einige zusätzliche Chatlogs von Lehmann, die sie bei ihrer ersten Anfrage nicht gesehen hatte.
Simmons erging sich unterdessen in weiteren Details, warum mit hoher Sicherheit die Russen von Lehmanns privater Forschungsarbeit mitbekommen hatten, und beklagte sich darüber, wie wenig Mitarbeiter ihm zur Verfügung standen und wie ungewöhnlich München selbst als Einsatzort seit dem Kalten Krieg geworden war. Früher, legte er dar, habe die bayerische Regierung so viele dubiose Geschäfte mit Ländern im Ostblock und vor allem der damaligen Deutschen Demokratischen Republik betrieben, dass die CIA-Station München eine der größten von Westeuropa gewesen war. Heute konnten sie sich dort nicht einmal mehr eine feste Station leisten. Nach dieser kurzen Abschweifung kam er aufs Thema zurück. »Nun, das ist lange her. Der Grund für dieses Treffen ist ganz einfach. Erst mal bräuchten wir von ihnen eine Einschätzung, wie brisant die Lage ist, und dann müssen wir das weitere Vorgehen besprechen.«
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