1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Wie lange dieser Zustand anhielt, konnte die Eiche später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Eingesponnen in einen schützenden Kokon aus reinstem Glück, verlor sie jedes Zeitgefühl. Was sie jedoch deutlich registrierte, war das befreiende Gefühl, als eine pralle Eiterblase giftiger Negativität in ihrem Innern aufbrach und wie ein schwarzes, zähflüssiges Rinnsal aus ihr heraus sickerte, die Welt ihrer Gedanken und Gefühle verließ.
Denn auch als Baum ging das Leben nicht spurlos an einem vorüber, auch sie hatte sich im Laufe der Zeit mit dem Virus tiefsitzenden Misstrauens gegenüber Allem und Jedem infiziert. So empfand sie es als Segen, dass sie das weiße Licht von einem ganzen Berg irrationaler Ängste erlöste und jede Menge erstickende Zweifel auslöschte.
Irgendwann erschien ein spiralförmiges Lichtwesen an der Seite der Träumerin, nahm sie behutsam an ihre dunkelgrün bemooste Hand und führte sie in das Zentrum des Heiligtums. In seiner Mitte glomm in einem zarten, transparent wirkenden Orangeton ein fluoreszierender Lichtkranz, der in stetem, ruhigen Rhythmus pulsierende Kern der Sonne. Auf die Eiche wirkte er wie eine Insel der Verheißung. Um diesen Ort stiller Glückseligkeit einigermaßen treffend zu beschreiben, müsste man eine neue Sprache erfinden. Grob ausgedrückt, bestand er aus Nichts und enthielt dennoch Alles.
Der Magnet aus Licht trieb den Frohsinn der Träumerin in schwindelerregende Höhen, bis sie es kaum noch ertragen konnte und befürchtete, gleich vor Entzücken zu verbrennen. Magisch angezogen, taumelte sie auf den immer gleißender erstrahlenden Schein zu, realisierte bestürzt, dass sie sich im freien Fall befand und und verlor den Verstand. Und während ihr Geistkörper haltlos wie Weltraumschrott um seine eigene Achse trudelte, drehte sie sich auch gedanklich um sich selbst und um das, was hinter ihr lag. Vage, aus großer Ferne, nahm sie wahr, dass ihre Erfahrungswerte abgefragt wurden, und dann funkelte die Gesamtzahl der einschneidenden Erlebnisse ihres vergangenen Lebens, wie eine Kette aus Blitzlichtern, vor ihrem inneren Auge vorbei.
Als sie ihr Bewusstsein zurück erlangte, fand sie sich in dem Zustand eines frisch geborenen Säuglings wieder. Frei von jedwedem Zweifel und mit sperrangelweit geöffneten Sinnen lauschte sie ihrer ganz persönlichen Offenbarung. Während sie, ohne zu urteilen, ihre Qualitäten und ihre Schattenseiten betrachtete und abwägte, erkannte sie ihr eigenes Potential, aber auch ihre trickreichen Mechanismen der Verhinderung und Selbstsabotage. So selbstverständlich wie ein guter, lang vertrauter Freund, zeigte ihr die lichte Instanz die Vielzahl der inneren Widerstände auf, die sie sich alltäglich zwischen die Wurzeln warf.
Keine komplizierten Erklärungen, weder Worte, noch Bilder, als ob der gute Rat aus ihr selbst gekommen wäre. Ein Lehrer, so unaufdringlich und klar in seiner Botschaft wie ein Herz, dessen gelassene Impulse das Blut im Körper verteilten. Das Licht war ein geflüstertes Versprechen. Es verhieß Erlösung und ließ sie an der universellen Erkenntnis teilhaben, dass die Realisierung ihrer sehnlichsten Wünsche nur eine Frage ihrer richtigen Einstellung war.
Die eingeschworene Gemeinschaftder Naturschützer erreicht ihr Ziel noch weit vor dem Morgengrauen, lange bevor der erste, frühe Vogel auch nur Piep machen mag und reißt alle Bewohner des Waldes aus dem wohlverdienten Schlaf. Alle, bis auf die gewohnheitsmäßigen Nachtschwärmer und zurückgezogen lebenden Nachtschattengewächse, die den klammheimlichen Einzug der jungen Leute mit Argusaugen beobachten.
Während sich die Neuankömmlinge mit Sack und Pack auf einer, im Zentrum des Waldes gelegenen, Lichtung ausbreiten und damit wie selbstverständlich den Versammlungsort der hier heimischen Fauna und Flora in Beschlag nehmen, macht die Kunde von dem ungebetenen Besuch schnell die Runde. Die zuverlässigsten Schnellkuriere und Wächter des Waldes sind die Eichelhäher, ihre Großfamilien sind extrem engmaschig vernetzt und tragen jede Neuigkeit in Windeseile in alle Welt. Neben ihrer hässlichen Angewohnheit, die Nester von heimischen Singvögeln zu plündern, haben sie allerdings auch den Ruf, die allergrößten Lästermäuler der westlichen Hemisphäre zu sein, eine kleine Charakterschwäche, die ihr kommunikatives Talent wohl unweigerlich mit sich bringt. Bei diesem äußerst umtriebigen Vogelvolk halten sich Licht und Schatten federgenau die Waage.
So wie die alte Eiche im Weihtaler Forst die Rolle des Mediums inne hat, gibt es bei den frisch Zugezogenen einen jungen Mann namens Jo, der für diese Aufgabe prädestiniert ist. Allerdings ist er das eher unfreiwillig, noch hadert er mit seinem Schicksal, das einen klar umrissenen Plan zu verfolgen scheint.
Es versucht, ihn dazu zu motivieren, dem Sumpf aus konfuser Stagnation, in dem er sich momentan befindet, eine Form zu geben. Der Plan, den es dabei verfolgt, ist aus seiner Not eine Tugend zu machen und dieser auf diese Weise einen tieferen Sinn zu verleihen. Vor allem gilt es zu vermeiden, dass aus einer Übergangsphase eine Dauerlösung wird. Sein momentanes Lebensgefühl ließe sich, nach seinem ausgedehnten Ausflug in das Nirwana lupenreiner Ekstase, aktuell am treffendsten als schweres Schweben charakterisieren.
Der Junge nennt sich Jo wie „Jo“ und nicht wie im Amerikanischen, „Dscho“. Und es scheint fast so, als ob ein großer Geist, der über die Wege aller Lebewesen wacht, die erklärte Absicht hat, aus der gerade erst überstandenen lebensbedrohlichen Krise um seinen labilen Geisteszustand, eine Chance auf einen Neubeginn zu generieren.
„Rückblickend hat das Unheil mit einer einzigen Pille begonnen.“, redet er sich sein Drama gerne schön. Eine reichlich verklärte Sicht der Dinge, die auch faktisch nicht ganz der Wahrheit entspricht. Nach Jahren polytoxischer Selbstexperimente, war es wohl eher einer der kleinen, bunten Spaßmacher zu viel, den er sich eingeworfen hat ohne auf die lange Liste der Inhaltsstoffe zu achten. Die eine, aus höllisch miesen Zutaten zusammengepanschte Superpille, auf die er besser verzichtet hätte und von der er seitdem nicht mehr so ganz herunter kommt.
Verborgen hinter Jos supercooler Fassade, hat sich das fiese, kleine Ding zu einer, in Ungewissheit getarnten, dunklen Instanz entwickelt, die ihn mittels Angst in Schach hält, Angst vor den Nachwirkungen, die in Gestalt von abgründigen Horrortrips jederzeit aus dem Hinterhalt über ihn hereinbrechen könnten. Der Preis, den der goldene Reiter für seinen extraordinären Höhenflug zahlt, ist astronomisch hoch, denn ein ausgesprochen einfallsreiches Monster befehligt die molekularen Altlasten seiner beschwingten Drogenkarriere. In unregelmäßigen Abständen ergeben sich im Mikrokosmos seiner Blutbahnen neue chemische Verbindungen, die ihn in Form von extremen Flashbacks heimsuchen. Wohin die nächste Reise gehen wird, ist und bleibt schlichtweg unkalkulierbar.
„Ich bereue nichts!“, ist einer der markigen Sprüche, die Jo im Brustton der Überzeugung allzu gerne von sich gibt. Aber auch wenn seine Zuhörer stets verständnisvoll nicken, Texte wie „Jau, is' ja logo, Jo!“ absondern und ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, Jo weiß es besser. Insgeheim wünscht er sich, er hätte ein paar der günstigen Gelegenheiten ausgelassen, auch wenn sie sich ihm, in allen Regenbogenfarben verführerisch schillernd, an den Hals warfen oder for free am Wegesrand lockten, betörend wie die Sirenen, die Odysseus einst in Versuchung führten.
Diese Art von Rückschau ist natürlich ein rein theoretisches Gedankenspiel, pure Illusion. Entweder waren diese Optionen viel zu geil oder er einfach nur zu schwach gewesen, eine klare Entscheidung zu treffen. Sobald es um Drogen oder schnellen Sex ging, verwandelte er sich in einen Eiermann, der niemals deutlich „nein“ sagen konnte. Allerhöchstens zu einem vagen „Vielleicht heute besser mal nicht“ fühlte er sich in seinen hellen Momenten imstande und das bedeutete soviel wie „Her damit! Ist immer noch besser als nichts“.
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