Jo befürchtet, dass er die Kontrolle verlieren könnte. Wenn viele gleichzeitig auftauchen, wird es schwierig für ihn, den Überblick zu behalten. Dann kann er unmöglich alle im Auge behalten. Aber einer wird sich um sie kümmern müssen, jemand muss sie genau beobachten. Aufpassen, das sie keinen Unsinn anstellen. Denn so entspannt und harmlos, wie sie jetzt gerade wirken, sind sie nämlich nicht. Jo weiß, dass sie sich auch in etwas ganz Anderes verwandeln können. In etwas Garstiges und Feindseliges, listig wie hundsgemeine Kobolde. Wenn sie wollen, können sie ohne Ende Scheiße bauen und einem das Leben schwer machen...
Ganz ruhig und entspannt bleiben, Alter! Lass dich nicht aus dem Konzept bringen. Du weißt es inzwischen doch viel besser, hast geschnallt, wie der dämliche Angsthase läuft. Wie ein Vollidiot rennt er im Zickzack vor seiner Angst davon und geradewegs ins Verderben hinein.
Vor allem darf man sich niemals der Panik ergeben, niemals der Versuchung nachgeben, sich tot stellen zu wollen. Denn das ist nur etwas für Loser. Die glauben noch an das kindische Versteck hinter vor das Gesicht gehaltenen Händen. Sie denken, wer nicht sieht, kann auch nicht gesehen werden.
Ruckartig kommt Jo in die Realität zurück und merkt, dass er aufgehört hat, zu atmen. Er befürchtet, das leiseste Geräusch könnte ihn verraten.
Nein! Diesen Hochsicherheitsknast vermeintlicher Sicherheit kennt Jo zur Genüge.
Nein! Ins Bockshorn jagen lässt er sich nicht mehr. Never, ever!
Nein! Anstatt wie ein trotteliges Opferlamm mit offenen Augen in die Falle zu tappen, beschließt er das Monstrum namens Angst zu verwirren, indem er genau das Gegenteil von dem macht, was es von seinen Opfern erwartet.
Lass jetzt alles los, jedes Gefühl und jeden Gedanken. Schalte radikal um auf Survivalmodus. Das Einzige, was in so einem Moment zählt, ist das immer gleiche Ein und Aus, das einen am Leben hält. Tu nichts, außer dem Kommen und Gehen deines Atems zu lauschen. Alles andere ist ohne Bedeutung. Beobachte deinen Körper, wie selbstverständlich er für sich sorgt, wie klar und ruhig er ist. Genau wie ein großer See, auf dessen Oberfläche bei einem Sturm kleine Wellen tanzen, bleibt er in seiner Tiefe gänzlich unbeeindruckt von äußerem Druck und Getöse.
Folge seinem Beispiel und erkenne die simple Strategie des Überlebens. Die naheliegendste Lösung ist gleichzeitig das Einfachste auf der Welt. Und das, was funktioniert, ist richtig. Tiefer Atem ist die beste Medizin in solchen Situationen.
Jo starrt in die Nacht, die Nacht starrt zurück. In seinem Rücken spürt er die lebendige Wärme der Eiche, ihre borkige Rinde strahlt Geborgenheit aus. Er ist ihr dankbar für diese Zuwendung, eine Dankbarkeit, die an Liebe grenzt. Der Baum empfindet auch Zuneigung für ihn, da ist Jo sich sicher. Hinter ihm steht eine Riesenportion Liebe für alle lebendigen Wesen, und er ist einer von ihnen. Er muss sich nur diesem allgegenwärtigen Schutz anvertrauen. Dann wird alles gut. Und ein Leben ohne Angst liegt vor ihm.
Chill mal wie Buddha, sagt er sich. Das sind nur Naturgeister. Die tun dir nichts. Du bist doch einer von ihnen, ein Freund der Bäume.
Jo hat einschlägige Erfahrungen mit Angstzuständen aller Couleur. Mit den Jahren hat er sich zu einem Krisenmanager erster Güte entwickelt, zu einem wahren Meister im Bewältigen von Panikattacken.
Was ihm neben den sich zumeist in den Abendstunden einstellenden, übernatürlichen Erscheinungen, am meisten zu schaffen macht, ist seltsamerweise eine positive Entwicklung, die eigentlich Anlass zur Freude sein sollte. Im Verlauf der letzten Monate weiteten sich die zunächst sporadischen, vereinzelten Glücksmomente zu ausgedehnten Glückssträhnen aus. Früher kannte er nur die rasanten Wechsel zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit, himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt. Doch nun wacht er morgens auf und ist einfach guter Dinge, grundlos glücklich und muss gar nichts weiter dafür tun. Als ob dieses Glücksgefühl sein ursprünglicher, natürlicher Seinszustand wäre.
Aber aus bitterer Erfahrung weiß er, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist und unmöglich stimmen kann. Denn umsonst ist nicht mal der Tod und Highlights wie plötzliche Anfälle von Frohsinn gibt es schon mal gar nicht geschenkt. Die haben ohne Ausnahme einen langen Schatten und darin verbirgt sich meistens ein Rattenschwanz.
Tagelang grübelt er kreuz und quer und sucht händeringend nach dem Haken an der Sache. Denn irgendeinen hässlichen Haken muss dieses ungewohnte Lebensgefühl ja schließlich haben. Und obwohl alles nun viel einfacher geworden ist, kommt es ihm gleichzeitig komplizierter vor, schon allein deshalb, weil er Phasen von Freude und Entspannung seit jeher extrem irritierend fand.
Dennoch muss er sich widerwillig eingestehen, dass sich sein ganzes Leben, seit dem Beginn seiner Abstinenz, wie von Geisterhand umgestaltet hat. Es ist deutlich strukturierter und überschaubarer geworden und geht ihm leichter von der Hand. Viele unumgängliche Alltäglichkeiten, zu denen er sich früher erst langwierig überwinden musste und die er ewig, zusammen mit einem Berg anderer unerledigter Dinge vor sich her schob, laufen heute wie von selbst.
Sogar die Welt seiner Gedanken entwickelt sich inzwischen zunehmend in eine optimistische Richtung. Manchmal ist sie sogar dermaßen lichterfüllt und positiv, dass es ihm so vorkommt, als ob ein Engel seine Hand über ihn halten und ihn mit einem Zauberspruch segnen würde. Dann erstrahlt alles in ihm, bis in jede einzelne Zelle hinein, in solch einer reinen Stille und Schönheit, dass es ihn irgendwann hochgradig anzuöden beginnt. Die Monotonie des Frohsinns ist ein echtes Paradoxon.
In exakt diesen schwachen Momenten sucht sie ihn heim, die Unerträglichkeit stillen Friedens. Eine alle guten Ansätze im Keim erstickende und zermahlende Unruhe nimmt sich krakenhaft Raum in ihm und verstopft jede seiner Gehirnwindungen, bis am Ende nichts als hochtoxischer Sondermüll mit Überschallgeschwindigkeit in seinem Kopf rotiert, absoluter Mindfuck.
Je mehr sich seine Gesamtsituation entspannt, desto stärker schürt seine zunehmende Nervosität eine böse Lust in ihm, das neu gewonnene Gefühl der Geborgenheit niederzureißen und zuzuschauen, wie die zarten Knospen seines frisch erwachten Selbstvertrauens im Glutkegel seines Zweifels zu Asche verbrennen. Ein alter, ausgetretener Pfad, der durch ausdauernden Selbsthass gebahnt wurde und nach wie vor eine Option ist, die er jederzeit abrufen kann. Dieser flackernde Wahnzustand ist ein alter Bekannter, dessen Antlitz ungesund beleuchtet wird vom giftig gelben Stroboskoplicht, das Jos latentes Misstrauen erzeugt. Er gleicht einem kurzen, dramatisch hohen Fieber, einer schwarzgesichtigen Krankheit, die alles in den Dreck zieht und jeden Sinn für das Schöne aus seinem Herzen brennt.
Verstandesmäßig erkennt er selbstverständlich, dass es ihm jetzt besser geht als je zuvor und er das Leben zunehmend besser auf die Reihe kriegt, trotzdem ertappt er sich gelegentlich bei der Lust auf ein ausgewachsenes Drama. Dann überfällt ihn ein unwiderstehlicher Bock auf totales Chaos, auf den guten, alten, ganz alltäglichen Wahnsinn, der ihn früher durch die Tage gepeitscht hat. Und während er bereits mit dem verlockenden Gedanken spielt, dem infernalischen Sog nachzugeben, kommt sie ihm gleichzeitig total verrückt vor, diese Sehnsucht nach dem so verflucht vertraut erscheinenden, todtraurigen Land namens Selbstzerstörung. Als ob sie ein warmer, perfekt eingetragener Lieblingsmantel wäre, von dem er sich nicht trennen mag.
Manchmal spielt er mit dem Gedanken, vorsätzlich zu scheitern. Ein katastrophaler Rückfall würde ihn in seiner latent skeptischen Vermutung bestätigen, dass es sich bei seinen Glücksgefühlen ohnehin um nichts als trügerische Illusionen handelt. Hinter ihrer hübschen Fassade steckt nichts als ein Strohfeuer seiner Neuronen, die ihn trickreich in Sicherheit wiegen wollen, nichts als eine Überlebensstrategie seiner Seele, damit er nicht vom rechten Weg abkommt und erneut abstürzt.
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