An diesem absoluten Tiefpunkt seines Daseins erkannte er, dass alles miteinander verbunden ist. Angekommen im weinenden Auge seines Schmerzzentrums, blieb ihm nichts anderes übrig, als endlich die Tatsache zu akzeptieren, dass das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit ein wesentlicher Aspekt der Existenz ist, eine ungeschriebene, aber zwingende Gesetzmäßigkeit des Lebens. Im gleißenden Licht dieser Erkenntnis verbrannte sein Hochmut zu Asche, sie zwang sein eitles Gemüt im Nu und radikal in die Knie. Endlich vollkommen ernüchtert, fand er sich auf allen Vieren wieder, um Gnade winselnd wie ein verletztes Tier und glaubte, dass er sich von dieser leidvollen Erfahrung nie wieder erholen würde.
Doch er hatte sich getäuscht, das Leben ging weiter. Im Nachhinein blieb ihm diese Zeit unverhohlener Einsamkeit als das wesentlichste Lehrjahr seines bisher so gänzlich verpfuschten Daseins in Erinnerung. Ganz auf sich selbst gestellt, musste er sich eine schmerzliche Ewigkeit lang mühselig durchschlagen, bis er schließlich auf einer zweiten, extra seinetwegen einberufenen Vollversammlung Abbitte leisten durfte.
Sein Publikum war alles andere als ihm wohlgesonnen. Die haben ihn angesehen, als ob er ein Aussätziger wäre, dabei hatte er in seinem dauerbekifften Zustand, der phasenweise einem ausgewachsenen Delirium gleichkam, zumeist gar nicht gewusst, was er tat, war phasenweise kaum noch zurechnungsfähig. Wie heißt das vor Gericht so schön? Im Zweifel für den Angeklagten. Jo war der Meinung, dass ein Eierkopf wie er, einer, der nicht weiß, was er tut, eine zweite Chance bekommen sollte. So ein armer Teufel hat ein verbrieftes Recht auf Absolution, oder?
Seine Zukunft hing davon ab, dass er das Kunststück fertigbrachte, der aus selbstgefälligen Arschgeigen bestehenden Grand Jury seine Sicht der Dinge zu verklickern. Als sein eigener Anwalt musste er das Schlussplädoyer selber halten, niemand wäre auf die Idee gekommen, sich auf seine Seite zu schlagen und ein gutes Wort für ihn einzulegen.
Und überhaupt? Was wollten die bloß alle von ihm? Er kann schließlich nichts dafür, dass ihm das Scheitern in die Wiege gelegt wurde. Das macht ihn nicht automatisch zum schlechten Menschen. Man kann doch niemanden für sein angeborenes Naturell verurteilen, ein Affe ist ein Affe und eine Rose eine Rose. Er ist nun einmal als Skandalnudel auf die Welt gekommen, und wenn man so eine eskapistische Ader erst einmal voll ausgebildet hat, ist ein gelegentlicher Griff ins Klo fast unvermeidlich, quasi schon vorprogrammiert und deshalb halbwegs verzeihlich.
Jo kennt das Prozedere inzwischen wie seine Westentasche. Noch besser weiß er um seinen undankbaren Part in diesem weltumspannenden Gesellschaftsspiel. Im Laufe der Zeit ist er in die Rolle des schwarzen Schafes hineingewachsen und hat sich damit abgefunden, der schwarze Peter, Buhmann und Arsch vom Dienst zu sein. Das überstrapazierte Gewissen der moralisch tadellos funktionierenden Gutmenschen braucht nun einmal einen ausgewachsenen Sündenbock wie ihn, also tat er ihnen den Gefallen und spielte brav seine Rolle.
Kleinmütig wie ein getretener Hund, wälzte er sich unter ihren kalten, abschätzigen Blicken im Urschlamm seiner Schuld. Eine meisterhafte Darbietung, deren Qualität auf der Echtheit seiner Gefühle basierte, eine Glanzstunde des Method Acting. Er hat alles gegeben; geheult, gebettelt und mit den Zähnen geklappert, um wieder in den solidarischen und hermetisch geschlossenen Reihen der Aktionsgruppe „Natur ist Leben!“ Einlass zu finden. Reumütig nahm er die Lektion in Demut entgegen, ließ öffentlich die Hosen herunter und schämte sich noch nicht einmal dafür. Im Gegenteil, er war überglücklich, endlich Abbitte leisten zu dürfen. Seine Angst, ein weiteres Jahr unter dem Damoklesschwert gesellschaftlicher Ächtung vegetieren zu müssen, fegte jegliche Hemmungen und Anflüge von falschem Stolz kurzerhand beiseite.
Als Stunden später die bereits scharlachrot verschleierte Sonne die Wipfel der Bäume küsst und purpurne, fein gewobene Wolkenschleier die nahende Dämmerung ankündigen, schaltet Hermann den handlich kleinen, mobilen Dieselgenerator aus, der ihnen tagsüber den notwendigen Strom geliefert hat. Auf dieses Zeichen hin, lassen die Genossen und Genossinnen kollektiv ihre Hämmer fallen und gehen zum gemütlichen Teil der Aktion über.
Mit routinierten Handgriffen nimmt ein Lagerplatz Gestalt an, in seiner Mitte die traditionelle Feuerstelle. Totholz wird gesammelt und aufgespalten und dann kunstvoll zu einer kniehohen Pyramide aufgeschichtet. Um diese herum nehmen im Nu zwei perfekt abgezirkelte Kreise Gestalt an, einer aus braunrot geäderten, eiförmigen Findlingen, der andere aus dicken, nach Harz duftenden Baumstämmen, die einige Leute aus dem Wald herbei gerollt haben. Selbstverständlich geht der zu Kleinholz zersägte Baum nicht auf das Konto der jungen Leute, zu derlei Grausamkeiten sind sie definitiv nicht im Stande.
Kaum hat die wohltemperierte Sommernacht den Vorhang zur Außenwelt geschlossen, prasselt bereits ein anheimelndes Feuer in der Mitte der Lichtung. Das zuckende Licht der Flammen zaubert schattige Erscheinungen auf das schweigende Rund der Bäume, tanzende Schemen, die von Stamm zu Stamm huschen und immer weniger von dieser Welt sind.
Jo bemüht sich krampfhaft um eine demonstrativ relaxte Körperhaltung, spürt aber, wie sich mit seiner aufkommenden Panik alle Muskeln verhärten, sein ganzes Ich eine verschreckte Schutzhaltung einnimmt. Er weiß genau, was jetzt geschieht. Präzise und berechenbar, ja, auf eine perverse Art zuverlässig wie eine Schweizer Uhr, läuft in ihm ein tausendundeinmal durchlebter Automatismus der Angst ab, bricht sich das bange Lebensgefühl von einem Bahn, der sich auch in der tausendundersten Nacht nicht erfolgreich weigern kann, auszuziehen, um das Fürchten zu lernen.
Gelähmt, unfähig, die Notbremse zu ziehen, steht Jo neben sich und schaut sich dabei zu, wie er unaufhaltsam immer kleiner wird. Er versucht so zu tun, als wäre er ein unbeteiligter Beobachter, ein nur mäßig interessierter Voyeur, den das Ganze eigentlich gar nichts angeht.
Ein Psychodoktor sähe in ihm vermutlich einen zerrissenen Menschen, aus Jos Perspektive jedoch ist dieser Zustand der Spaltung ein nicht von der Hand zu weisender Fortschritt, er empfindet es als ausgesprochen wohltuend, seinen Schrumpfungsprozess inzwischen von außen betrachten zu können und nicht mehr so zwanghaft eingekeilt zu sein zwischen all seinen widersprüchlichen Gefühlen. Wer nicht wirklich existiert, der braucht auch keine Angst zu haben.
Zum Glück gibt ihm seine auserwählte Eiche etwas Halt in dieser dunklen Stunde, es tut gut, eine so kraftvolle Verbündete in der Nähe zu wissen. Den verspannten Rücken gegen ihren mächtigen Stamm gepresst, rutscht er unruhig auf seiner Isomatte herum und versucht die Geister zu ignorieren, die sich mit der zunehmenden Dunkelheit in immer schärfer konturierte Gestalten verwandeln. Späte Gäste, die außer ihm offensichtlich niemand wahrnimmt. Jedenfalls scheint der fröhlich tratschende Rest der Truppe im Gegensatz zu ihm keine Gedanken an irgendwelche Begegnungen der dritten Art zu verschwenden.
Fucking strange! Der dicke Baum dort drüben öffnet plötzlich seine gigantischen Kulleraugen. Reißt sie sperrangelweit auf.
Jetzt ist es passiert! Das, was er die ganze Zeit befürchtet hat. Einer der Tagschläfer ist aufgewacht. Das dämliche, laute Gelaber hat ihn aufgeweckt. Aus der Mitte seiner runzeligen Rinde heraus glotzt er ihn an wie ein Auto. Da! Jetzt hat er ihm auch noch zugeblinzelt...
Jo möchte den anderen am liebsten den Mund verbieten, sie bitten, leiser zu sein.
Seid doch endlich still! Ihr weckt sie sonst alle auf. Es sind so viele dort unten. Sie fühlen sich gestört und hangeln sich aus den tiefen Schatten ihrer labyrinthischen Höhlen hinüber in die Welt der Menschen. Bald werden ganze Heerscharen an die Oberfläche kommen und der Wald voll von ihnen sein.
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