Tief atmete er ein. Genau das, was er jetzt brauchte! »Schade, die mochte ich immer besonders gern«, antwortete er und folgte der kleinen Frau dann in den Keller. Er konnte kaum glauben, dass er gleich sehen würde, wo die Köstlichkeiten hergestellt wurden, die er schon nach dem ersten Bissen geliebt hatte. Lucy hatte ihn nur äußerst widerstrebend kosten lassen, aber der kleine Bissen, den er ihr abgerungen hatte, hatte ihn auch von den Pekannuss-Karamell-Brocken überzeugt - trotz der Nüsse. Er war sich sicher, dass er sich über kurz oder lang durch das Sortiment kosten würde. Wenn das mit Probierpackungen möglich war, umso besser.
Die Frau führte ihn die alte Steintreppe hinab. »Passen Sie auf Ihren Kopf auf«, sagte sie und sah über ihre Schulter. Die Decke über der Treppe hing tatsächlich überraschend tief. Doch das gab sich, als sie in den Raum traten, der sich jetzt offenbarte. Alte, gebrannte Fliesen lagen auf dem Boden, an einigen Stellen blank und ausgetreten von jahrzehntelanger Benutzung.
Gleich zu ihrer Rechten befand sich ein großer Gasbrenner, auf dem ein alter Kupferkessel stand. An der Wand hingen Rührkellen aus Holz, auch hier waren die Griffe blank von der Benutzung über Jahre hinweg. Und dann öffnete sich der Raum weiter. An der linken Seite fand sich ein langer Edelstahltisch, auf dem ein altersschwacher Ventilator stand. In einer Ecke des Raumes hing ein Fernseher, auf dem gerade ein Basketballspiel übertragen wurde. Der Ton war leise gestellt. Es gab eine große Spüle, eindeutig neueren Datums und nachträglich eingebaut.
Das Herzstück des Raumes aber war wohl der große Marmortisch. Die Platte dick und glänzend. Es waren kleine Kerben auszumachen, ebenfalls Zeichen von jahrzehntelanger Arbeit und Benutzung. An diese Platte grenzten zwei Arbeitstische, daran zwei Stühle. Und es gab ein großes Regal sowie Schränke, in denen sich alle möglichen Utensilien befanden, und alte Aktenschränke mit Schubladen. Was sich darin befand, war nicht zu sehen.
Und vor einem dieser Regale standen zwei Männer. Ein älterer mit schneeweißem Haar, das unter einem Basecap hervorlugte. Sie trug das Weinrot und den gelben Schriftzug der Pointy Ravens. Eine der zwei großen Basketballmannschaften von Three Points. Er rieb sich mit einer Hand über das Kinn, vor seinen Bauch eine Schürze gebunden. Ein breites Kreuz, starke Oberarme. Darin unterschied er sich nicht von dem anderen Mann, den Calvin nur schwer ausmachen konnte. Alles, was er im Moment sehen konnte, war eine Blue-Jeans, in der ein offensichtlich knackiger Hintern steckte, denn der Mann hatte sich vorgebeugt, zwischen zwei merkwürdige Behältern hindurch, die Getreidesilos nicht unähnlich sahen. Nur waren sie bedeutend kleiner.
»Also wenn wir die Regale umstellen und die zwei hier auch, dann könnten wir die Überzugsmaschine hereinbekommen. Es wird eng, aber es könnte klappen.« Ein Zollstock wurde über den Boden gezogen.
»Hey, ihr zwei!«, rief jetzt die Frau neben Calvin. Und das brachte den jüngeren Mann dazu, zusammenzuzucken. Ein seltsam hohles Geräusch erfüllte den Raum. Gefolgt von einem Schmerzenslaut.
»Verdammt!«, fluchte der Mann und rieb sich über den Kopf, während er sich aufrichtete.
Calvin verzog das Gesicht, weil er den Schmerz beinahe mitfühlen konnte. Der jüngere Mann, bei dem es sich um den ältesten Sohn Leo handeln musste, war etwas größer als sein Vater. Als er sich umwandte, sah Calvin in ein fein geschnittenes Gesicht mit ausgeprägten Kieferknochen und dunkelblondem Haar. Er erkannte den Mann von den Fotos wieder, die er im Internet gesehen hatte, doch als sich nun ausdrucksstarke, hellbraune Augen auf ihn richteten, war es als sähe er ihn zum ersten Mal. Trotz der hellen Augenfarbe wirkte der fremde Blick dunkel und unergründlich.
Leo hatte seine Mutter wirklich gern, doch die Frau ging auf so leisen Sohlen, dass man sie oft überhörte. So auch jetzt. Ihre Stimme erschreckte ihn und an was auch immer er sich gestoßen hatte, es schickte eine Welle des Schmerzes bis in seine Zehenspitzen. Doch dieser Schmerz verflog mit einem Mal. Als er sich erhob und nur mit dem Anblick seiner Mutter rechnete, traf sein Blick auf ein fremdes Augenpaar. Helle, grau-grüne Augen sahen ihm entgegen. In einem schmal geschnittenen Gesicht. Dunkelblondes Haar in einer modischen Kurzhaarfrisur, doch das nahm er nur am Rande wahr, denn er konnte den Blick nicht aus den hellen Augen nehmen. Fieberhaft suchte er nach einem Vergleich, doch es wollte ihm keiner einfallen. Kein Flaschengrün. Und kein Grau wie an einem Nebeltag. Eher wie der dumpfe Glanz eines erblindeten Spiegels. Doch für das Grün schien es keinen Vergleich zu geben.
»Ich habe euch einen Besucher mitgebracht«, sagte Evelyn jetzt und stutzte. »Ach, ich habe noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt.«
»Und Sie haben mir Ihren auch noch nicht verraten, obwohl ich ihn inzwischen aus den Postings kenne«, antwortete Calvin lächelnd an die kleine Frau gewandt, bevor er den Blick wieder auf die beiden Männer richtete und ihnen schließlich die Hand hinhielt. »Calvin Brewster.«
Der weißhaarige Mann lächelte breit. »Charles Larkin. Freut mich. Meine Frau Evelyn kennen Sie ja schon, auch wenn Sie gerne mal ihre guten Manieren vergisst.« Er sagte das mit diesem breiten, freundlichen Lächeln, das klarmachte, dass es ein Scherz war. »Und mein Sohn Leo.« Nach Charles ergriff jetzt auch Leo die dargebotene Hand und nahm noch immer nicht den Blick von diesen sagenhaften Augen.
»Hi«, sagte er leise, als sich eine feine Hand in seine eigene schob. Weich und warm.
Für einen Moment überwältigt von der Intensität des Blicks vergaß Calvin glatt, die fremde Hand auch zu schütteln und so standen sie für einen Augenblick nur da und hielten die Hand des anderen. »Hi«, brachte Cal schließlich hervor und runzelte kurz lächelnd die Stirn, weil irgendetwas zwischen ihnen vor sich ging, das er nicht greifen, wohl aber spüren konnte. »Auch Sie kenne ich schon von den Fotos. Sie beide natürlich.«
»Calvin wollte einmal sehen, wo die Arbeit stattfindet, nachdem er so begeistert von den Schokoschaum-Karamell-Pralinen war«, sagte Evelyn lächelnd. Leo hielt noch immer die warme Hand in seiner eigenen.
»Ist das so?«, fragte er leise den jungen Mann vor sich und leicht runzelte er die Stirn. Wie jung war er? 29? Oder eher 27? Eine gerade, beinahe stolze Nase saß in dem ebenmäßigen Gesicht und wieder glitt sein Blick zurück in die hellen, so außergewöhnlichen Augen.
»So ist das«, bestätigte Cal. »Ich habe seit Tagen das Verlangen nach Schokolade und seit ich die Pralinen gekostet habe, komme ich an Fabrikschokolade nicht mehr ran. Obwohl ich sie mir ganz leicht kaufen könnte, aber ...« Kurz presste er die Lippen aufeinander. »Entschuldigung, ich verplappere mich gerade wie Ihre Mutter bei meinem letzten Besuch.«
Verführerisch rote Lippen. Die untere Lippe etwas voller als die obere. Ein energischer Schwung um die Mundwinkel herum. Leo hatte keine Ahnung, wo der Gedanke herkam, doch ihn überkam das Verlangen, dieses kecke Lächeln von diesen Lippen zu küssen. Bis sie rot und geschwollen waren. Leicht strich sein Daumen über die unfassbar zarte Haut darunter. »Dann passen Sie wohl sehr gut hierher. Plappern liegt uns allen im Blut.«
Es war diese Berührung, die Calvin dazu brachte, dem für ihn fremden Mann seine Hand zu entziehen. »Jedenfalls war mir nach Schokolade und hier bin ich«, lächelte er jetzt auch den älteren Mann an, dessen weißes Haar ihn schwer auf ein Alter schätzen ließen. Bei Leo Larkin war er sich sicherer: Mitte bis Ende 30. Calvin sah wieder zu Evelyn. »Wirklich keine Umpa Lumpas! Ich bin fast ein wenig enttäuscht, aber nur fast.«
Sie grinste. »Wie ich sagte. Wir arbeiten noch auf althergebrachte Weise. Magische Wesen wären uns nur im Weg.«
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