Die Bordellbesitzer verdienten im 18. und 19. Jahrhundert große Vermögen. Einige importierten ihre Frauen vom europäischen Kontinent, aber die meisten lockten anständige englische Mädchen in ihre Klauen, und dann gab es kein Entrinnen. Dienstmädchen, die vom Land nach London kamen, waren eine leichte Beute. Man bot ihnen freie Fahrten in bequemen Kutschen zu ihren Arbeitsstellen an, oder sie wurden durch verlockende Geldangebote in Versuchung geführt.
Bis nach dem Ersten Weltkrieg war kein junges Mädchen in den Straßen Londons sicher, und aus dieser Epoche sind herzzerreißende Geschichten darüber überliefert, wie übel die Mädchen behandelt wurden, und man hört Berichte über ihren frühen Tod durch Alkohol, Drogen und Krankheiten.
Als der Herzog von Oswestry mit seinem Phaeton vor dem Haus in der Park Street vorfuhr, wünschte er, nicht aussteigen zu müssen.
Er besuchte Lady Marlene Kelston nur deshalb, weil er während der letzten vierundzwanzig Stunden von ihr nicht nur einen, sondern drei Briefe erhalten hatte. In jedem teilte sie ihm wortreicher als im vorangegangenen mit, sie müsse ihn sofort sprechen.
Er konnte sich nicht denken, was sie veranlaßt hatte, ihm zu schreiben, nachdem sie sich schon vor fast drei Monaten getrennt hatten.
Er hatte ein kurzes, leidenschaftliches Verhältnis mit Lady Marlene gehabt. Als es in einem bitteren Streit endete, wobei sie einander heftig beleidigt hatten, sagte er sich, es sei von allem Anfang an töricht von ihm gewesen, sich mit ihr einzulassen.
Lady Marlene war eine sehr selbstbewußte Frau und während der letzten zwei Jahre die Schönheit von St. James' gewesen.
Seine Mutter hatte ihn stets vor ihr gewarnt und gesagt: »In den Kelstons fließt schlechtes Blut!«
Der Herzog gestand sich ein, daß sie recht gehabt hatte. Nachdem er mit Lady Marlene eine enge Beziehung hatte, zeigte sich bald ihr schlechter Charakter.
Für die Welt strahlte sie Charme aus, und ihre kecke Mißachtung der gesellschaftlichen Konventionen hatte einen eigenen Reiz.
Sie war verheiratet gewesen, als der Herzog in Wellingtons Armee kämpfte. Ihr Mann war bei Waterloo verwundet worden und schließlich vor drei Jahren seinen Verletzungen erlegen.
Lady Marlene hatte die übliche Trauerzeit kaum abgewartet, ehe sie wie ein Meteor in den besten Kreisen erschien. Und es gab keinen Zweifel daran, daß sie großen Erfolg gehabt hatte.
Sie war in der Tat außergewöhnlich schön, und schließlich gab der Herzog ihrem Werben nach.
Was er nicht erwartet hatte, ja, was überhaupt niemand für möglich gehalten hatte, war der Umstand, daß Lady Marlenes Launen und unersättliche Forderungen ihn so rasch langweilen würden.
Aber wenn Lady Marlene unberechenbar war, so war es der Herzog ebenfalls.
Er stand kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag und besaß große Erfahrung mit Frauen.
Sie waren hinter ihm her gewesen seit dem Augenblick, in dem er die Schule verlassen hatte, denn es gab im ganzen Land niemanden, der als gute Partie begehrenswerter gewesen wäre, und keinen Mann, der für das andere Geschlecht so attraktiv und unwiderstehlich war wie er.
Er war auch außerordentlich geschickt darin, sich den Frauen zu entziehen. Durch sein anspruchsvolles Wesen und sein Verlangen nach Vollkommenheit verloren sie für ihn den Reiz so rasch, daß der Prinzregent einmal scherzend sagte: »Ihre Amouren dauern so kurz, Oswestry, daß wir jetzt, da der Krieg vorüber ist, bald Damen vom Kontinent zu Ihrem Vergnügen werden einführen müssen.«
Der Herzog hatte pflichtschuldigst gelacht, doch sein Blick hatte sich dabei verdüstert, aber der Prinzregent hatte es nicht bemerkt.
Der Herzog mißbilligte es, wenn man über seine Liebesaffären sprach. Er war der Meinung, sein Privatleben ginge niemanden etwas an.
Aber in der Beau Monde, wo man sich mit Vergnügen auf jeden noch so kleinen Skandal stürzte und darüber redete, bis es nichts mehr zu sagen gab, konnte jemand, der so stadtbekannt und herausragend war wie der Herzog, unmöglich irgend etwas geheim halten.
Das war ein weiterer Grund, weshalb er das Verhältnis mit Lady Marlene gelöst hatte. Sie war indiskret, und das war in seinen Augen unverzeihlich.
Er gab die Zügel seines Pferdes einem Stallknecht, stieg vom Phaeton und bemerkte dabei, daß die Knöpfe an der Uniform des Lakaien, der neben der Eingangstür stand, dringend einmal geputzt werden sollten.
Lady Marlene hatte nach dem Tod ihres Mannes wieder ihren Mädchennamen angenommen, da sie, wie sie es auf aggressive Weise verkündete, »die Vergangenheit auslöschen« wollte, »und dazu gehört auch mein verstorbener und nicht betrauerter Mann«.
Die Witwen, die sie schon immer scheel angesehen hatten, waren sich darin einig, daß sie sich genauso herzlos und skandalös benahm, wie man es von ihr erwartet hatte.
Schon nach dem Krieg war es aufgefallen, daß Lady Marlene mit einem verkrüppelten Mann nichts anfangen konnte, nachdem er sich seine Verletzungen auf dem Schlachtfeld zugezogen hatte.
»Für mich muß ein Mann ein Mann sein«, hatte Lady Marlene erwidert, als jemand sie getadelt hatte, und es bestand kein Zweifel daran, daß sie wenigstens diesmal die Wahrheit sprach.
Was will sie von mir, um alles in der Welt, fragte sich der Herzog, als er durch die Marmorhalle geführt wurde und ein Diener ihm die Tür zum Salon öffnete.
Der Herzog kannte das Haus gut. Er hatte es oft genug besucht.
Es war seiner Meinung nach billig eingerichtet, und außerdem bedurften die Möbel dringend der Pflege.
Das Familienhaus der Kelstons gehörte Lady Marlenes Bruder, dem Grafen von Stanwick. Aber da der Graf selten in London weilte, wäre es Verschwendung gewesen, wenn sie einen eigenen Haushalt gegründet hätte.
Die Kelstons hatten niemals viel Geld besessen. Das war nicht verwunderlich, denn sie waren alle so anspruchsvoll wie Lady Marlene, nur daß deren Rechnungen von ihren Verehrern bezahlt wurden. Aus diesem Grund befand sie sich immer in einer besseren finanziellen Lage als ihre Verwandten.
Der Salon war leer, und der Diener murmelte: »Ich werde der gnädigen Frau mitteilen, daß Sie hier sind, Euer Gnaden.«
Der Diener schloß die Tür hinter sich.
Der Herzog ging langsam zum Kamin und, fragte sich zum wiederholten Mal, was Lady Marlene ihm wohl zu sagen habe.
Ihren ersten Brief hatte er ignoriert. Aber als der zweite und der dritte Brief eintrafen, hatte er das unbehagliche Gefühl, daß sie ihn schließlich aufsuchen würde, wenn er nicht zu ihr fuhr.
Dies hatte sie früher mehr als einmal getan. Sie war oft im Oswestry House am Berkeley ohne Einladung erschienen und hatte ihn in die unangenehmsten Situationen gebracht, denn seine seriösen Verwandten schätzten sie nicht und äußerten dies auch offen, obwohl sie wußten, daß es den Herzog erzürnte.
Der Herzog nahm seine Stellung als Familienoberhaupt sehr ernst, und von dem Augenblick an, da er den Titel geerbt hatte, war er in allem, was er in der Öffentlichkeit tat, umsichtiger als er es zu Lebzeiten seines Vaters gewesen war.
»Du wirst alt und gesetzt!« hatte ihn Lady Marlene oft geneckt.
Dies geschah gewöhnlich dann, wenn er nicht an einer ihrer Eskapaden teilnehmen wollte oder es kategorisch ablehnte, sie auf einen Ball oder eine Gesellschaft zu begleiten, die von Leuten gegeben wurde, die er nicht mochte.
Er mußte daran denken, wie heftig ihre Auseinandersetzungen gewesen waren, oft so leidenschaftlich wie ihre Liebe, und er sagte sich, daß er sich glücklich schätzen konnte, das Verhältnis gelöst zu haben.
Die Tür ging auf, und Lady Marlene trat ein.
Es bestand kein Zweifel daran, daß sie schön war, selbst der Herzog mußte das zugeben.
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