Es dauerte nicht lange, bis ihm die Augen zufielen, doch aus seinem leichten Schlaf sollte er rüde wieder geweckt werden, als Paul ins Zimmer stolperte und sich keine Mühe machte, Rücksicht auf Cal zu nehmen. Mit klopfendem Herzen sah er auf, das Buch noch neben sich auf dem Laken. Im Halbdunkel der kleinen Leselampe begegnete ihm Pauls Blick. Sein Freund versuchte gerade, sich von seiner Kleidung zu befreien.
»Du bist betrunken«, konstatierte Cal und erntete dafür ein Schnauben.
»Na und? Kann dir doch egal sein, was ich mit meinen dämlichen Freunden mache.«
»Paul ...« Es raschelte leise, als sich Calvin aufsetzte und auf das Bettende zu robbte, vor dem Paul noch immer stand und an seinen Hemdknöpfen herumfummelte. »So habe ich das doch nicht gemeint. Ich war nur sauer und ...«
Der Schlag kam aus dem Nichts. Pauls Handrücken traf Calvin hart an der Wange, schleuderte seinen Kopf zur Seite. Mit geschlossenen Augen öffnete er den Mund. Seine Lippen formten ein stummes Au, denn ein brennender Schmerz breitete sich auf seiner Wange aus, trieb ihm Tränen in die Augen. Doch die Genugtuung wollte er Paul nicht zugestehen, also verdrängte Calvin die Feuchtigkeit in seinen Augen und wandte seinen Blick wieder seinem Freund zu.
Wortlos sahen sie sich in die Augen. Dann rutschte Cal zurück, löschte das Licht und zog sich die Decke bis zur Nase, nachdem er seinen Kopf auf dem Kissen gebettet hatte. Er drehte sich zum Fenster, zog die Knie an den Körper und sah durch die Fensterscheiben nach draußen. Die dunklen Wolken zogen träge am Himmel dahin. Er erkannte es an den helleren Wolkenlöchern, die sich wie Schatten am Firmament bewegten. Schwere Regentropfen landeten am Glas und rannen nach unten. Calvin schloss die Augen, ignorierte das Rascheln hinter sich, das ihm bedeutete, dass auch Paul sich schlafen gelegt hatte.
Als er das nächste Mal die Augen öffnete, drang das Licht eines neuen, bewölkten Frühlingsmorgens durch die Fenster zu ihm. Er hatte heute Spätschicht, könnte also noch liegen bleiben, doch ... Leise drehte er sich um und stellte fest, dass die Betthälfte neben ihm leer war. Er schob sich aus dem Bett und hörte leise Geräusche aus der Küche, denen er folgte. Paul sah von einer Pfanne auf, aus der es verführerisch nach Rührei duftete.
»Morgen«, begrüßte Calvin ihn und Paul lächelte.
»Ich habe dir Frühstück gemacht.« Er trat auf Calvin zu und küsste ihn sanft auf die Lippen. Seine schmeckten nach Schlaf und Restalkohol. Dann fiel Pauls Blick auf Calvins Wange. »Oh, gut. Es ist kaum zu sehen.« Leise seufzte er. »Tut mir leid, Calvin. Ich wollte das nicht.«
»Ist schon gut.« Cal glaubte seinen eigenen Worten nicht, doch es war das Einzige, was er sagen konnte. »Ich mache mich kurz fertig, dann können wir essen.«
»In Ordnung.«
Im Spiegel betrachtete sich Calvin schließlich seine Wange. Seinem langsamen Bartwuchs hatte er einen leichten und in seiner Situation oft hilfreichen Bartschatten zu verdanken, der aber nicht so ungepflegt aussah, dass er sich heute rasieren musste. Dafür konnte er dankbar sein. Und Paul hatte Recht, bis auf eine kleine Rötung und den Hauch eines blauen Flecks war von dem Schlag nichts zu sehen. Er wich von dem Spiegel zurück, sah sich selbst in die grau-grünen Augen. Dann öffnete er den Spiegelschrank, griff nach dem Make-Up und begann mit zusammengebissenen Zähnen, die Spuren des letzten Abends zu beseitigen. Als er sich an den Frühstückstisch setzte und Paul Gesellschaft leistete, war von dem Schlag nichts mehr zu sehen.
»Du hast heute frei, oder?«, fragte Paul nach einer Weile in die Stille.
»Nein, Spätschicht. Aber ich fahre vor der Arbeit zu meinem Dad und schau mal nach Donatello.«
»Denkst du, er ist schon wach?« Pauls Messer kratzte Butter auf den goldbraunen Toast. Ein Geräusch, das Calvin Gänsehaut bereitete.
»Ich weiß es nicht. Deswegen muss ich ja gucken fahren.« Calvin trank einen Schluck grünen Tee. Selbst den hatte ihm der reumütige Paul gekocht.
»Wäre schön, ihn wieder hier zu haben.«
»Ja.« Calvins Stimme klang sehnsüchtig. »Ich vermisse ihn. Was ist mit dir? Was hast du heute vor?« Paul war KFZ-Mechaniker und arbeitete in einer großen Werkstatt. An Samstagen musste er nie arbeiten.
»Ich räume erst einmal das Wohnzimmer auf und dann werde ich vielleicht zu Steve fahren.«
»Hm«, machte Calvin nur leise mit Rührei im Mund.
»Wir schrauben vielleicht etwas an dem alten Mercedes rum«, fuhr Paul fort und biss dann geräuschvoll von seinem Toast ab.
»Dabei wünsche ich euch viel Spaß.« Calvin erhob sich und nippte noch einmal am Tee, bevor er die Tasse abstellte. Ein überraschter Blick traf ihn, den er ignorierte. »Ich werde dann mal los.«
»Aber, bis auf zwei Bissen Rührei hast du noch gar nichts gegessen.«
»Ich habe keinen Hunger.« Es kostete Überwindung, sich zu Paul zu beugen und ihn auf die Wange zu küssen. »Danke trotzdem fürs Kochen. Bis heute Abend.«
»Hm.« Paul zog ihn an dem weichen Pullover, den er sich übergezogen hatte, zu sich, um ihn richtig zu küssen. »Bis heute Abend.«
Calvin nickte lächelnd. Ein Lächeln, von dem er nicht sicher war, ob es echt oder unecht war. Es fühlte sich an wie ein bisschen von beidem. Seine Schritte wogen schwer, als er die Küche und wenig später auch die Wohnung verließ, doch mit jedem Schritt, den er auf die Bushaltestelle zu machte, wurden sie leichter. Der Bus war überheizt und obwohl er nicht einmal voll besetzt war, war die Luft zum Schneiden dick. Als Calvin wieder ausstieg und die letzten Meter bis zu seinem Elternhaus lief, war von dem Gewicht, das auf ihm gelastet hatte, kaum noch etwas zu spüren. Der Vorgarten des kleinen Häuschens erwachte mehr und mehr zum Leben. Es war ein strenger Winter gewesen, der jetzt von wärmeren Temperaturen und hellerem Tageslicht verdrängt wurde. Es war gerade zwei Wochen her, dass er zuletzt hier in der Vorstadt gewesen war.
»Womit habe ich diesen frühen Besuch denn verdient?«, dröhnte die Stimme seines Vaters ihm entgegen.
Lachend trat Calvin auf die Haustür zu, in der sein Vater stand, ignorierte dabei den Schmerz, den das Lachen auslöste. »Hi Dad.«
Eine große Hand schlug ihm liebevoll auf die Schulter und wie so oft hielt Calvin einen Moment ängstlich die Luft an. Doch wie sonst auch wirkte seine Maskerade. »Hallo, Junge. Also?«
»Was denkst du nur von mir? Ich wollte dich besuchen«, beteuerte Calvin, während er in den Flur trat und seine Weste in den Garderobenschrank bugsierte. Den bohrenden, blauen Blick seines Vaters spürte er deutlich in seinem Nacken. »Na schön«, seufzte er also, »ich wollte nach Donatello sehen.«
»So ist das! Von wegen deinen alten Herrn besuchen!«
»Dad», lachte Calvin. »Du weißt, dass es immer beides ist.«
»Ja ja, schon gut. Deinem gepanzerten Freund geht es gut. Ich habe gestern erst nach ihm gesehen.«
Calvin war seinem Vater in die kleine Küche gefolgt, in der es angenehm warm war und nach Kaffee duftete. »Ist er schon wach?«
»Wach ist bei dem Tier ja relativ.«
»Kommt er aus seinem Panzer? Blinzelt er?«
»Ja.«
»Dann ist er wohl wach. Schön. Dann kann ich ihn mitnehmen.« Calvin ließ sich auf einen der drei Stühle nieder, die an einem kleinen Esstisch standen.
»Zuerst trinkst du mit mir einen Kaffee.«
»Ich hätte heute lieber einen Tee.«
»Nah, darin kommst du ganz nach deiner Mutter.« Calvins Vater deutete auf einen Hängeschrank. »Such dir einen aus.«
Nickend erhob sich Calvin. Die Teeauswahl seines Vaters beschränkte sich auf fünf Sorten: Kamille, Hagebutte, Pfefferminze, Gunpowder und Jasmintee. Die beiden Grünteesorten standen nur in seinem Schrank, weil Calvin sie gern trank. Lächelnd griff Calvin nach einer der Packungen, befüllte einen Teebeutel mit den typischen, gerollten Teeblättern des Gunpowder-Tees und hängte ihn schließlich in die Tasse mit den Blumen darauf, die ihm sein Vater hinhielt.
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