Jetzt fror Alexis, sie zitterte am ganzen Körper und verspürte eine solche Angst … Eine Angst vor der Dunkelheit, wie nur Kinder sie haben. Der Raum musste sich verformt haben, denn ein gutes Stück entfernt konnte sie ein kleines Licht ausmachen. Als sie bibbernd nähertrat, wurde ihr klar, dass der Raum zu einem Tunnel geworden war.
Unsicher hielt sie sich an seinen Rändern fest, um hindurch zu gelangen. Sie steuerte das Licht an, das ihr hoffentlich das schöne Gefühl zurückbringen würde … Mit ihren schweißnassen Händen fuhr sie den Stoff hinunter, der ihren Körper umhüllte. Sie spürte eine Lähmung, es war, als komme sie nicht voran …
Irgendwann war sie so weit gekommen, dass sie Genaueres sehen konnte. Sie erkannte eine vage Gestalt vor dem Licht, breit gebaut und mit starkem Buckel. Ihr Haar glänzte, jedoch nicht vor Schönheit, sondern weil es fettig war. Fettig und hässlich, und trotzdem so lang, dass es ihr den ganzen Rücken hinunterreichte und beinahe mit dem dunklen Umhang verschmolz.
Alexis vermutete, dass die Gestalt sie nicht wahrnehmen konnte, ansonsten hätte sie sich schon längst umgedreht. Aber sie blieb still und kam näher, während sie erkannte, was die Gestalt verdeckte.
Da war kein eigentliches Licht. Es war eine Person, von der das Licht ausging. Sie lag, ähnlich einer Leiche, auf einem schmalen Bett, während das Licht sie umhüllte, oder viel mehr aus ihr heraussickerte.
Vorsichtig trat Alexis an der buckeligen Frau vorbei zum Fußende des Bettes. Sie betrachtete das weiße Tuch, das auf der lichtbenetzten Person ausgebreitet worden war, als wäre ihre Seele bereits im Jenseits.
Alexis musterte die schmale, an den Hüften leicht gerundete Statur, die schlanken Finger, die langen schwarzen Haare … Immer heftiger schlug ihr Herz. Wo war denn auf einmal die Luft hin? Warum konnte sie nicht mehr normal atmen? Alexis starrte auf das bleiche Gesicht, die dichten Wimpern und geschlossenen Lider … und hätte am liebsten laut aufgeschrien. Sie hielt sich zurück und presste eine Hand auf den Mund, so geschockt war sie.
Vor ihr lag … sie selbst. Niemand anders. Sah sie hier ihren eigenen Tod? Sie merkte erst, dass sie zurückgewichen war, als ihr die Entfernung zu der buckeligen Gestalt auffiel. Alexis konnte nicht fassen, dass ihr Körper neben einer schwarzen Hexe lag, während sie selbst kaum mehr als ein Zuschauer war. Das Gesicht der düsteren Gestalt drehte sich in jenem Moment zu ihr, als wollte sie ihr beweisen, dass sie die wache Alexis sehr wohl bemerkt hatte. Gelbe Schlitzaugen ließen ihr einen Schauer über den Rücken laufen.
Die Frau in dem schwarzen Umhang fing an zu murmeln … Alexis versuchte zu entschlüsseln, was sie sagte, obwohl sie es am liebsten nicht wissen wollte.
»Bald ...«, sprach die hexenartige Gestalt, »bald bist du mein … Bald wirst du nicht mehr geschützt sein!«
Als stellten sich tausend Nadeln auf, waren auf einmal Alexis' Arme mit einer Gänsehaut übersät.
Es waren die gelben Augen und das höhnische Grinsen, das sie als letztes sah, bevor sie aufwachte.
*
»Du siehst irgendwie so gar nicht gut aus.«
Alexis warf ihrer besten Freundin einen vielsagenden Blick zu. »Vielen Dank.« Etwas zu laut stellte sie ihren Kaffeebecher ab, bevor sie den Kopf auf den Tisch aufschlagen ließ.
»Willst du nicht doch etwas von mir mitessen?« Besorgnis lag in Aprils Stimme.
Das hatte ihr jetzt noch gefehlt. »Nein, wirklich. Ich … danke, ich weiß, dass du es lieb meinst.«
Als sie den Kopf hob, musterte ihre beste Freundin sie von Kopf bis Fuß. An ihrem Hals blieb sie mit ihrem Blick ein wenig länger hängen, wo sich, wie Alexis heute früh festgestellt hatte, rote Flecken gebildet hatten.
April biss sich auf die Lippe, sichtlich beunruhigt. »Hast du schon wieder nicht schlafen können?«
Es dauerte einen Moment, bis die Worte zu Alexis durchdrangen. Fahrig strich sie durch die dichten Haarsträhnen hindurch. »Hm? Ehm, nein. Diesmal habe ich einfach schlecht geträumt und konnte nicht wieder einschlafen.« Oder wollte es nicht.
»Weißt du, es könnte helfen, wenn du eine Nacht bei mir übernachtest. Das haben wir doch schon ewig nicht gemacht! Und oft spiegeln Träume unsere Ängste wider, oder das, was uns beschäftigt.«
Zwar hörte sich Aprils Vorschlag nicht schlecht an, aber ihr letzter Satz war genau das, was Alexis nicht hören wollte. Trotzdem ließ sie sie einfach weiterreden.
»Wovon genau hast du denn geträumt?«
»Ich … war an einem schrecklichen Ort, zumindest kam er mir so vor … Und dann habe ich meine Leiche gesehen und eine komische Hexe, die vor diesem toten Ich gebeugt stand und geredet hat … Irgendwas von wegen, dass ich bald ihr gehören werde oder so ...«
»Die eigene Leiche zu sehen ist natürlich gruselig«, erwiderte April nachdenklich und fasste sich an ihren blauen Ohrring, »aber so schlimm klingt es nun auch nicht.«
Alexis nickte langsam. »Ja, wenn man es so sagt … Aber ich hatte so eine Angst, April. Es war mehr das Gefühl, das mich nicht mehr schlafen ließ. Es war so … real, ich kann es kaum beschreiben.«
April strich sachte über Alexis´ Hand und lächelte aufmunternd. »Lexi, wenn du bei mir bist, bringe ich dich auf andere Gedanken. Und auf keinen Fall wirst du mit Angst im Bauch einschlafen oder aufwachen, dafür sorge ich! Außer, ich packe die Spinnen aus dem Keller, die brauchen mal ein bisschen Gesellschaft ...«
Als sie Alexis' Gesicht sah, prustete sie los. »Du müsstest dich mal sehen! Keine Sorge, ich lasse sie schon da, wo sie sind.«
Auch Alexis musste schmunzeln, obwohl sie es nicht annähernd so lustig fand wie April, die immer noch laut lachte. Sie hatte eine Heidenangst vor Spinnen, seitdem ihr Vater es für eine gute Idee gehalten hatte, seinem Kind die Angst zu nehmen, indem er ihr eine Vogelspinne die Hand gesetzt hatte, die daraufhin in ihren Ärmel gekrabbelt war. Nie wieder! , hatte sie sich damals geschworen! Aber als sie näher darüber nachdachte … war das nie passiert. Sie hatte nie eine Vogelspinne mit ihren eigenen Augen gesehen. Sie hatte noch nie bei April übernachtet. Und wo ihr Vater war, das wusste sie auch nicht. Was war nur mit ihr geschehen?
*
Der lange Pferdeschwanz wippte von links nach rechts und wieder zurück, immer wieder, während Alexis die Straßen entlang schlenderte. Sie konnte das vertraute Ziehen an ihrem Hinterkopf spüren.
Sie war auf dem Weg zu April und hatte sich geschworen, nicht mehr weiter darüber nachzudenken, was sie wusste oder was sie nicht wusste. Was sie nicht wusste, war im Moment nämlich um einiges mehr, als sie es für möglich gehalten hätte.
Die laue Brise strich ihr über das Gesicht und verursachte ein leichtes Gefühl der Schläfrigkeit. Auf dem Rücken konnte Alexis ihren robusten Rucksack spüren, der mit den Schulsachen für morgen gepackt war, sodass sie gleich morgen früh mit April zur Schule gehen konnte, ohne noch einmal nach Hause gehen zu müssen. Sie hoffte inständig, dass ihre Freundin recht hatte und sie bei ihr besser schlafen würde.
Das Gesicht der komischen Hexe mit den gelben Augen hatte sie noch gut in Erinnerung, aber immerhin verblasste allmählich Milans Gesicht in ihren Gedanken. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob sie jemals verliebt gewesen war. Und sie wusste, dass sie sicher nicht in Milan verliebt war, obwohl sie oft gehört hatte, dass, wenn man oft an jemanden denkt, man automatisch große Gefühle für denjenigen entwickelt. Alexis hielt das für Unsinn und überhaupt zog sie sich gerne vor Leuten zurück, die sie nicht kannte.
Sie fragte sich, ob die zwei Schüler, die verschwunden waren, genauso gewesen waren. Bestimmt hatten sie Leute, die sich um sie sorgten. Freunde, Familie. Vielleicht besaßen sie auch Haustiere, die jeden Abend auf sie warteten, und das vergeblich. Mit diesen Gedanken stieg Alexis die Stufen aus Stein empor und klingelte an dem Schild, auf dem in geschnörkelter Schreibschrift der Name Scott prangte.
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