Laura Lippman
Die Frau im grünen Regenmantel
Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb
Kampa
»Ich werde hier als Geisel gehalten«, flüsterte Tess Monaghan in ihr iPhone. »Von einer Terroristin. Ihre Forderungen sind vage, ihre Absichten unklar, aber sie könnte mich mindestens zwei Monate festhalten. Zwölf Wochen oder achtzehn Jahre, je nachdem, wie man es sieht.«
»Wirklich nett, wie du über unser künftiges Kind sprichst«, sagte ihr Freund Edward »Crow« Ransome und deckte sie mit einem Quilt zu, obwohl es ein typischer Baltimorer Herbsttag war, überhaupt nicht kühl. Die Decke war ein Geschenk von Crows Mutter, einer Künstlerin mit außergewöhnlich gutem Geschmack, was ihre Versäumnisse hinsichtlich des Spitznamens wettmachte, unter dem er noch immer zu leiden hatte. Unter normalen Umständen wäre Tess begeistert gewesen über diese moderne Version des in ihren Lieblingsfarben gestalteten Fliegende-Gänse-Motivs: gedeckte Grün- und Goldtöne, die hervorragend zu dem vor Kurzem winterfest gemachten Wintergarten passten. Kaum weniger als ein oranger Sträflingsoverall, erinnerte sie die Decke aber auch an ihre Gefangenschaft.
Den ganzen Sommer lang hatte sie sich darauf gefreut, im Anbau ihres Bungalows zu sitzen, zuzusehen, wie das Laub sich langsam färbte, und sich den Rücken an dem zweiseitigen Kamin zu wärmen, der auch das Wohnzimmer beheizte. Diese Vorfreude hatte jedoch auf der Annahme basiert, dass sie den Wintergarten jederzeit verlassen könnte, wenn ihr danach war, und nicht gezwungen wäre, dort tagaus, tagein zu liegen. Zu ihrem nicht geringen Entsetzen war die Sprache sogar auf Bettpfannen gekommen, und ihre Tante, sie hatte es natürlich nur gut gemeint, hatte ihr einen antiken Nachttopf geschickt. Tess’ Frauenärztin meinte allerdings, das müsse sie sich nicht antun, außer vielleicht nachts. »Solange Sie es nicht übertreiben«, fügte sie hinzu. Womit? Mit dem Ins-Bad-Watscheln? Das leuchtete Tess nicht ein. Mit dem Feiern konnte man es übertreiben. Mit dem Trinken konnte man es übertreiben. Auch mit fettem Essen oder Sport. Aber ein drei Meter kurzer Gang ins Bad?
»Bring Wein mit«, zischte sie ins Telefon. »Und eine Pizza von Matthew’s. Und die Limabohnen mit Feta von Mezze. Und Sopaipillas von Golden West. Aber mach schnell!«
Crow nahm ihr behutsam das Telefon aus der Hand. Wie zart und einfühlsam er war, sah man einmal davon ab, dass sein Sperma das Burgtor ihres Diaphragmas durchbrochen hatte, dem Spermizid entwischt war und sich in den Bergfried durchgewuselt hatte, ein absoluter Glückstreffer, der sich in Tess’ nichts ahnendes Ei gebohrt und das aufsässige Menschlein gezeugt hatte, das sie jetzt an die Korbchaiselongue im Wintergarten fesselte.
»Wir würden uns über deinen Besuch freuen«, sagte er zu Tess’ ältester und bester Freundin Whitney Talbot. »Und sie darf sogar etwas Salz nehmen, solange es im Rahmen bleibt, versteht sich. Das mit dem Wein sollte natürlich nur ein Witz sein.«
»Von wegen! Wenn sie in Maryland nicht so rückständig wären, könnte ich mir übers Internet Wein bestellen. Diese blöde übergriffige Alkohollobby. Jede Wette, dass die bei Eddie’s welchen liefern, wenn wir darauf bestehen.«
»Machen sie wahrscheinlich wirklich«, pflichtete Crow ihr bei, verabschiedete sich von Whitney und legte das iPhone auf den Stapel Bücher, die Tess’ Tante zusammen mit dem Nachttopf geschickt hatte, um Tess’ Launen und Stimmungsschwankungen vorzubeugen. »Allerdings habe ich bereits über unsere momentane Situation mit ihnen gesprochen und über die damit verbundenen ernährungstechnischen Probleme in den nächsten Wochen. Außerdem, halt deine Zunge im Zaum. Selbst gespielter Ärger kann deinen Blutdruck in die Höhe treiben. Nicht nur das, er …«
Er holte die Blutdruckmanschette raus. Schon der Anblick war Tess zuwider. »Das teuerste Armband, das ich je hatte«, murmelte sie, als er die Manschette um ihren linken Bizeps legte, und obwohl das Ding nur 89 Dollar gekostet hatte, entsprach es der Wahrheit. Diese 89 Dollar, wurde ihr jetzt bewusst, waren die erste von vielen Ausgaben, die nicht von der bescheidenen »Gruppenkrankenversicherung« übernommen wurden, die sie für ihre Firma abgeschlossen hatte. Sie brauchte eine Familienversicherung, die viermal so viel kostete, und selbst dann kämen noch unvorhergesehene Ausgaben auf sie zu, die an ihren Ersparnissen zehren würden. Sie versuchte mühsam, sich zu beruhigen, als sich die Manschette aufpumpte und dann wieder abschwoll. Andrerseits: lieber wütend als ängstlich. Und sie hatte enorme Angst gehabt, als sie vor drei Tagen in der Notaufnahme gelandet war.
Das erste Alarmsignal war, im Nachhinein betrachtet, die Gelassenheit gewesen, mit der sie die fünfstündige Observierung durchgestanden hatte. Normalerweise wäre für Tess Monaghan allein der Umstand, dass sich ihre Blase mehrere Stunden lang nicht bemerkbar gemacht hatte, ein Grund zum Feiern gewesen. Obwohl sich schon viele Hersteller an diesem Problem versucht hatten, gab es noch immer keine Lösung für das, was sie das weibliche Notdurftbedürfnis nannte. Männer hatten da mehr Optionen, vor allem, wenn sie keine Hemmungen hatten. Seit Tess vor sechs Jahren Privatdetektivin geworden war, hatte sie sich extremes Durchhaltevermögen antrainiert und dachte dann oft voller Dankbarkeit an ihren Vater zurück, der bei Familienausflügen immer strikt auf die Einhaltung seines Zeitplans gedrungen und damit Tess dazu angehalten hatte, ihre körperlichen Bedürfnisse den Treibstofferfordernissen ihres alten Familienkombis anzupassen. Kurz vor dem letzten Trimester hatte sie feststellen müssen, dass die Schwangerschaft ihren Tribut von ihrer tapferen Blase forderte und Observierungen immer schwieriger machte. Das war insofern ein Problem, als Observierungen den Hauptanteil der Dienstleistungen von Keys Investigations ausmachten. Neben dem Mülltauchen, das sie widerstrebend aufgegeben hatte, seit sie erfahren hatte, dass sie schwanger war.
Wie sich herausstellte, war ihre Schwangerschaft bei Observierungen jedoch auch eine hervorragende Tarnung. Frauen schauten ihr auf den Bauch, nicht ins Gesicht. Männer wendeten den Blick ganz ab. Vor allem ein ganz bestimmter Mann, den sie unbedingt mit ihrem iPhone fotografieren wollte, ein säumiger Vater namens Jordan Baum. Der gelernte Anstreicher machte über seinen Anwalt geltend, sich bei einem Arbeitsunfall einen unmöglich nachzuweisenden »Weichteilschaden« zugezogen zu haben. Die Mutter seines Kindes glaubte, dass Jordan in zweierlei Hinsicht ein Betrüger war: Er arbeitete schwarz für einen Bauunternehmer, von dem er sich bar bezahlen ließ, beschummelte also nicht nur sie, sondern auch den Staat.
Jordan Baum war allerdings vorsichtig genug, keine Aufträge anzunehmen, bei denen er bei der Arbeit zu sehen war. In der Woche, in der Tess ihn observiert hatte, war er regelmäßig bei einem großen sanierungsbedürftigen Gebäude unten am Hafen ein und aus gehumpelt. Nun war es zwar verdächtig, wenn ein arbeitsloser Anstreicher Tag für Tag in einem Gebäude verschwand, das gerade renoviert wurde, aber es bewies nichts. In ihrer Not hatte sie schließlich eine attraktive Blondine angeheuert, Jordan Baum »zufällig« über den Weg zu laufen und ihm dann allerdings mehr Unglück zu bringen, als das jede schwarze Katze gekonnt hätte.
Tess’ Freundin Whitney versteckte sich zum vereinbarten Zeitpunkt hinter einer Hausecke in der Nähe der besagten Baustelle, bis Tess sie per SMS benachrichtigte, dass Jordan Baum im Anmarsch war. Daraufhin bog Whitney mit einem riesigen Packen Papiere in den Armen um die Ecke. Tess hatte sie nur gebeten, sie fallen zu lassen, aber Whitney ging so in ihrer Rolle auf, dass sie selbst mit einem lauten Aufschrei vor Jordan Baum hinfiel. Nicht nur, dass dabei die Papiere in alle Richtungen davonflogen, sie täuschte auch noch eine Knieverletzung vor. Prompt kam der galante Jordan angerannt und half Whitney auf die Beine. Sie bestand darauf, ihn in einem Diner in der Nähe auf einen Kaffee einzuladen. Währenddessen machte Tess eifrig Fotos von dem auf wundersame Weise geheilten Jordan. Das genügte, damit er die ausstehenden Unterhaltszahlungen an seine Ex anstandslos beglich. Was das Finanzamt anging – die konnten selbst einen Ermittler beauftragen, um ihren Anteil einzutreiben.
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