Statt auf dem gepflasterten Weg zu ihrem Auto zu gehen, steuerte Mrs. Blossom, scheinbar desorientiert, auf die Garage zu. Ein gewisses Maß an Verwirrtheit stand einer alten Frau schließlich zu. Das Garagentor hatte kleine rautenförmige Fenster, durch die man ins Innere schauen konnte. In der Garage war Platz für drei Autos, aber es standen nur zwei drinnen – ein BMW-SUV und ein windschnittiger Porsche, bei dessen bloßem Anblick sie bereits Rückenschmerzen bekam. Allein die Vorstellung, in so ein Auto einzusteigen. Mr. Epstein war wohl erst Mitte fünfzig, aber groß und kräftig. Sie versuchte sich die Autonummern zu merken, was nicht ganz ohne war. Zum Glück hatte ein Fahrzeug ein Wunschkennzeichen, dessen Bedeutung sich ihr jedoch entzog: MLCRISS.
»Midlife-Crisis!«, platzte Tess heraus. »Ausgerechnet das in die Welt hinauszuposaunen? Aber wo ist die Vorzeigefrau, die in der Regel dazugehört?«
»Sie ist auf Geschäftsreise«, sagte Mrs. Blossom.
»Behauptet er«, bemerkte Tess spöttisch. »Was haben Sie sonst noch bei Ihren Hintergrundrecherchen rausgefunden?«
Mrs. Blossom las von ihren Notizen ab. »Ihm gehört eine Kette von Scheckeinlösestellen. Fünf davon hat er allein in Baltimore.«
»Einige von diesen Leuten sind sauber, aber jede Wette, dass er zu den halbseidenen gehört, die Sozialhilfeempfänger ausnehmen und Kredite zu aberwitzigen Zinsen vergeben. Wie lang ist er schon verheiratet?«
»Dem Trauschein zufolge sechs Monate. Für sie – Carole Massinger Epstein – ist es die erste Ehe, für ihn nicht. Laut Trauschein war er verwitwet.«
»Zeitungsrecherchen?«
»Nicht viel, und die Beacon-Light -Datenbank reicht nur bis 1995 zurück. Er taucht in ein paar Meldungen über Scheckeinlösestellen auf, die sich wegen der Digitalisierung Sorgen machen, aber damit hat es sich auch schon.«
»Und Carole?«
»Im Vergleich zu seinen dreiundfünfzig ist sie mit zweiunddreißig deutlich jünger. Mehr habe ich bisher noch nicht herausbekommen.«
»Und bei der Kfz-Zulassungsstelle?«
»Die zwei Autos in der Garage sind auf ihn zugelassen, allerdings unter einer alten Adresse in Anne Arundel County. Er hat sie bisher noch nicht umgemeldet. Ihr Auto dagegen haben sie erst vor drei Monaten gekauft, es ist unter der neuen Adresse in der Blythewood registriert. Ein BMW-Cabrio, laut Unterlagen grün.«
»Wenn wir also Mr. Epstein glauben können«, sagte Tess, »hat sich seine Frau in ihrem nagelneuen BMW auf eine mehrtägige Geschäftsreise begeben, ohne mit einem Wort zu erwähnen, dass der Hund weggelaufen ist. Wer tut so was?«
»Der Hund scheint es ziemlich … in sich zu haben.«
» So schlimm ist er auch wieder nicht«, sagte Tess. Das immer noch namenlose Windspiel hatte aufgehört, seine Box zu verschmutzen, neigte jedoch immer noch dazu, jeden anzuknurren und nach ihm zu schnappen. Mit Ausnahme von Tess, die es als Mitgefangene in diesem bizarren Gefängnis zu betrachten schien. Wenn der Hund nur sprechen könnte, würde sich vielleicht eine dieser wunderbaren Freundschaften zwischen ihnen entwickeln, wie man sie aus Knastfilmen kannte. Der Hund in der Eisenbox, Der Kuss des Windspiels, The Preeclampsia Redemption .
Mrs. Blossom warf einen misstrauischen Blick auf die Hundebox. »Ich habe Mr. Blossom übrigens wegen eines Hunds kennengelernt. Habe ich Ihnen das mal erzählt?«
»Nein«, sagte Tess. »Ich weiß, dass Sie ihn keinen Monat nach Ihrem ersten Date geheiratet haben, aber wie es dazu gekommen ist, haben Sie nie erwähnt.«
»Ich stand an der Bushaltestelle. Ich habe damals am Notre Dame College studiert und allen Ernstes mit dem Gedanken gespielt, ins Kloster zu gehen. Ich wollte zwar keine Nonne werden, aber die Jungs standen nicht besonders auf mich. Ich hatte eine hübsche Figur und einen schönen Teint, aber ich wusste nicht, wie ich mit ihnen reden sollte, und deshalb dachte ich mir: Am besten, ich werde Nonne, dann merkt niemand, dass ich keinen Freund habe. « Das Geständnis schien ihr peinlich zu sein. »Ich war gerade mal siebzehn.«
»Man muss nicht siebzehn sein, um so was zu denken«, versicherte ihr Tess.
»Jedenfalls stand ich an der Bushaltestelle in der Charles Street. Und dann hat ein streunender Hund versucht, die Straße zu überqueren, und die Charles Street war damals, bevor sie die ganzen Highways gebaut haben, die so ziemlich stärkstbefahrene Straße in Baltimore. Ohne lange zu überlegen, bin ich ihm einfach hinterhergelaufen. Ein Autofahrer hat sofort gebremst, aber der hinter ihm hat nicht schnell genug reagiert und ist ihm hinten draufgefahren. Und dann ist der Hintermann unglaublich wütend geworden. Er ist ausgestiegen, und die zwei haben angefangen, sich anzubrüllen und dann auf mich einzuschreien …«
»Und der Fahrer, der gebremst hat, war Mr. Blossom?«
»Nein, nein.«
»Der Fahrer, der ihm hinten draufgefahren ist?«
»Nein, auch nicht. Mr. Blossom hat auf der anderen Straßenseite gestanden und auf den Bus Richtung Norden gewartet.«
»Und was hatte das mit dem Hund oder dem Unfall zu tun?«
»Ich war total durcheinander und bin einfach auf die andere Straßenseite gerannt. Und dieser nette junge Mann – damals kannte ich seinen Namen noch nicht – hat zu mir gesagt: ›Bleib doch erst mal ein paar Minuten hier, bis die zwei Herren sich wieder eingekriegt haben.‹ Das habe ich dann auch getan, und sein Bus ist gekommen und weitergefahren und meiner auch, und wir sind zur Cold Spring runtergegangen, wo es damals noch so eine altmodische Eisdiele gab, und haben geredet und geredet und, na ja, eigentlich haben wir nie mehr mit Reden aufgehört.«
»Echt? Sie waren über fünfzig Jahre verheiratet, ohne dass Ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen ist?«
»Wir haben durchaus gelernt, miteinander still zu sein. Aber dieses Schweigen war nie unangenehm. Wir waren einander nie böse.«
»Nie?« Das schien Tess unvorstellbar. Crow war der umgänglichste Mensch, den man sich denken konnte, und doch trieb er sie jede Woche mehrmals in den Wahnsinn. Wenn man lange verheiratet war, gemeinsam Kinder großzog, war es schlichtweg unmöglich, nicht hin und wieder gereizt oder wütend zu sein. »Wie haben Sie das geschafft?«
»Immer wenn ich wütend auf ihn wurde, habe ich an das Mädchen an der Bushaltestelle gedacht. Sie war so unglücklich. Niemals würde irgendwer mit ihr ausgehen, geschweige denn sie lieben, da war sie sich ganz sicher. Es hört sich vielleicht ein bisschen einfältig an, aber ich habe gemerkt, dass Glücklichsein mich glücklicher macht als Unglücklichsein.«
Tess ließ sich Mrs. Blossoms Worte noch einmal durch den Kopf gehen: Glücklichsein macht mich glücklicher als Unglücklichsein . Diese Feststellung war ebenso bescheuert wie tiefschürfend.
Nachdem Mrs. Blossom gegangen war, schaute Tess seufzend auf den Stony Run Park hinab. Ihr Laptop, der auf einem altmodischen Korbtablett vor ihr stand, hatte sie sehr schnell sehr weit gebracht, aber nicht weit genug. Sie konnte damit zu Hause das Internet durchforsten und in wenigen Augenblicken Informationen finden, für deren Beschaffung sie früher Stunden, wenn nicht Tage gebraucht hätte. Da waren zum Beispiel das Gutachten und die Kaufunterlagen für Don Epsteins Haus; und die alte Adresse in seiner Kfz-Zulassung ermöglichte ihr, sein früheres Haus aufzurufen, das noch teurer gewesen war als sein jetziges, eine Vier-Millionen-Dollar-Villa auf Gibson Island. Die drahtlose Verbindung ermöglichte es ihr zwar, Zeit und Raum zu überwinden, konnte ihr aber nicht zu den Zufallsfunden verhelfen, die sie, zunächst als Reporterin, beim Durchstreifen von Gerichten und Regierungsgebäuden und später, als Ermittlerin, beim Klinkenputzen gemacht hatte. Und sie fragte sich, ob das alles Teil einer gigantischen Verschwörung war und diese unglaublichen Zugangsmöglichkeiten nichts weiter als ein Taschenspielertrick waren. Schau her, schau, wie viel du finden kannst. Kümmer dich nicht um den Mann hinter dem Vorhang. H.L. Mencken, unbestritten einer der berühmtesten Journalisten des 20. Jahrhunderts, hatte alle Kollegen verachtet, die die Redaktion nie verlassen hatten, und sie die Kastraten der Branche genannt.
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