Ihre Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Fast wollte sie schon gehen, als es im 6. Stockwerk wieder dunkel wurde.
„Nun kommt’s darauf an, ob die Frauen dazu gehören, zur Wohnung, oder ob sie ihn nur nach Hause gebracht hatten. Meiner Meinung nach ist er ledig, nicht liiert.“
Sie stand auf, und näherte sich vorsichtig dem Hauseingang von der, der Tramstation abgewendeten Seite. Sollten die Frauen rauskommen, würden sie sich sicher nach der Station wenden. Sie wollte nicht, dass sie gesehen wurde. Andererseits konnte sie ja so tun, als ob sie zum Haus gehöre.
Sie war nur ein paar Schritte vom Hauseingang entfernt, als Isabelle und Tanja aus dem Haus kamen. Sie gingen, wie von Kala erwartet, in Richtung Tramstation. Sie schauten nicht in ihre Richtung. Die Haustüre war noch im Schliessen begriffen, als Kala mit ihrem Fuss die Tür stoppte. Sie war ein wenig nervös, als sie das Haus betrat und im Lift den Knopf für die 6. Etage drückte.
Vor Bens Tür blieb sie stehen und lauschte an der Tür. Sie hörte nichts. „Soll ich es wagen?“, fragte sie sich. Entschlossen drückte sie leise, ganz leise die Klinke runter. Die Türe war unverschlossen. Die zwei Frauen hatten also keinen Schlüssel oder sie hatten vergessen abzuschliessen.
Schnell betrat Kala die Wohnung und schloss die Türe zu. Im Dunkeln blieb sie stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie kramte in ihrer Manteltasche. Irgendwo hatte sie immer ein ganz kleines LED-Lämpchen dabei. Sie nahm die ganze Hand mit dem Kram, den sie in der Tasche hatte raus und tastete nach der Lampe. Doch sie fand sie nicht. Enttäuscht schob sie den Inhalt wieder zurück. Sie bemerkte nicht, dass sie was fallen liess. Sie hatte sich nun so an die Dunkelheit gewöhnt, dass ihr das Licht, welches von der Strasse her durchs Wohnzimmer bis in den Korridor schien, reichte. Sie wandte sich auf die andere Seite und sah durch die erste, unverschlossene Türe am Ende des Korridors. Sie sah die Leuchtziffern eines Weckers. Das musste das Schlafzimmer sein. Sie sah das grosse Bett und auch die Umrisse des Mannes, der darin schlief. Vorsichtig und leise schloss sie die Schlafzimmertüre und machte Licht im Korridor. Sie schaute sich um. In einem Wandschrank im Korridor, den sie ungeniert geöffnet hatte, fand sie sehr viele Wollsachen, fein säuberlich geordnet.
„Bingo!“, rief sie fast laut. „Ich hab’s gewusst, ein Wollfetischist. Das wird Leila auch freuen.“
Sie überlegte, ob sie sich über den schlafenden Ben hermachen sollte, liess es aber bleiben, da sie nicht sicher war, ob die Frauen zurückkommen. Einen Schlüssel zum Schliessen fand sie auch nicht. Sie löschte das Licht im Korridor, öffnete leise die Schlafzimmertür und verliess Bens Wohnung und machte sich auf den Heimweg, um ihrer Tochter die Neuigkeiten zu erzählen.
„Und, was denkst du?“, fragte Kala gespannt. „Willst du ihn schon zu Hause abfangen, wenn er auf dem Weg ins Geschäft ist? Morgen geht er nicht zur Arbeit. Aber übermorgen könnte er wieder gehen.“
„Woher weißt du das?“
„Aus einem Zettel, den eine der Tussen geschrieben hatte. „Er solle zuhause bleiben und sich erholen, stand geschrieben.“
„Von was erholen?“
„Was weiss ich. Vielleicht ist er ja wirklich krank. So hat er heute Abend auch ausgesehen. Total fertig. Konnte kaum laufen.“
„Was waren das für Tussis?“
„Ich weiss es nicht. Ich glaube nicht, dass es ‚Schwestern’ waren. Höchstens eine. Die kam mir ein wenig bekannt vor. Aber ich konnte das Gesicht nicht genau sehen.“
„Wenn es ‚Schwestern’ waren, dann kannst du ihn morgen vergessen. Dann wird er so fertig sein, dass er frühestens übermorgen oder gar noch einen Tag später wieder fit sein wird“, ereiferte sich Leila. Sie war aufgestanden und unruhig im Wohnzimmer hin- und hergelaufen.
„Wir müssen einen Plan entwerfen, wie wir ihn uns schnappen können, bevor die anderen sich wieder ihm widmen“, sagte Leila.
„Und wie soll der Plan aussehen?“
„Weißt du, wo der Kerl arbeitet?“, wollte Leila wissen. Sie war nun ziemlich aufgeregt.
„Nein, aber das kann ich raus finden. Gib mir zwei oder drei Tage.“
„Spinnst du! Zwei bis drei Tage! Wir müssen das sofort wissen. Ich habe da nämlich eine Idee“, lächelte Leila verschmitzt. Ihre grünen Augen glühten vor Entschlossenheit. „Komm setzt dich zu mir her!“
Leila hatte sich aufs Sofa gesetzt und das iPad auf den Schoss genommen. „Wo hast du die drei zuerst gesehen? An welcher Strasse? Hat es da grössere Firmen?“
Kala nannte die Strasse und ein zwei Firmen, die ihr spontan einfielen. Leila suchte mittels Google-Map die Strasse und eruierte noch zwei andere Firmen.
Nun rief sie die Firmen im Internet auf, um eventuell an ein Organigramm der Firma zu gelangen. Bei der ersten Firma wurde sie fündig.
„Schön“, sagte sie freudig, „da haben wir doch was. Wie war der Name des Kerls?“
„Ich habe nur Ben rausgefunden. Auf der Klingel stand auch kein anderer Name.“
„So wird das nichts. Bist du denn unfähig? Es gab doch sicher auch einen Briefkasten. Dort müsste ja der Nachname auch stehen, sonst kriegt der ja keine Post.“
„Du hast Recht“, antwortete Kala kleinlaut.
„Also suchen wir mittels Google-Map zuerst seine Adresse. Vielleicht werde ich ja dann im Telefonbuch fündig.“
Leila suchte nun Bens Adresse und schaute dann im Telefonverzeichnis nach.
„Na, also, da haben wir ihn ja: Ben Benjamin. Kein Wunder, schreibt der nur Ben an die Hausglocke.“
Sie suchte nun im Organigramm der ersten Firma, ob es dort einen Ben Benjamin gibt.
„He, he, erste Firma: Volltreffer! Der arbeitet in der Buchhaltung. Siehst du, sogar mit Foto ist der drin.“
„Ja, das ist er!“, rief Kala hoch erfreut. „Du bist ein Genie!“
„Ach, das ist doch nichts, kleine Recherche, weiter nichts“, machte Leila bescheiden, war aber insgeheim schon stolz, alles so schnell rausgefunden zu haben.
„So, nun brauchen wir noch seinen Vorgesetzten oder einen Mitarbeiter.“
„Für was?“, fragte Kala, die nichts wirklich begriff.
„Überleg mal“, sagte Leila nur und schaute höher im Organigramm.
„Du, da ist die eine Frau, die Ben begleitete, die Schwarze. Sie arbeitet mit ihm zusammen.“
„Bist du sicher?“
„Ja, die muss auch den Zettel geschrieben haben. Wie heisst sie? Tanja steht da. Ich bin mir fast sicher, dass Tanja auf dem Zettel stand.“
„Ich will aber den Vorgesetzten. Da haben wir ihn ja, oder besser da haben wir sie ja. Eine Frau. Der rufen wir morgen an.“
„Wir rufen sie an, wieso denn das? Was kann die uns nützen?“
„Das gehört zu meinem Plan. Ich muss wissen, wie ihre Stimme tönt.“
„Ah, ich verstehe“, nickte Kala, die aber rein gar nichts verstand.
„Was will ich denn bei ihr erreichen?“, fragte Leila schlitzohrig, weil sie genau wusste, dass ihre Mutter nichts verstanden hatte.
„Öhm...äh…“, stammelte Kala wie von Leila erwartet.
„Wenn ich weiss, wie ihre Stimme tönt, dann kann ich sie auch nachmachen, verstehst du? Dann rufe ich Ben an und gebe mich als seine Chefin aus.“
„Ja, und dann?“
„Ach, Gott, bist du begriffsstutzig. Ich sage ihm, dass wir ihn dringend im Geschäft brauchen. Er müsse so schnell wie möglich im Büro antraben. Wir, resp. du wartest vor dem Haus, gut versteckt, auf ihn. Sobald er in die Strassenbahn steigt, rufst du mich an. Ich werde dann an der nächsten Haltestelle einsteigen. Dann kriegen wir ihn bestimmt. Du fährst dann schleunigst mit dem Auto nach Hause und hältst dich bereit, wenn ich mit ihm komme.“
„Genial, einfach genial!“, rief Kala. „So kriegen wir ihn bestimmt. Ich freue mich schon.“
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