HASSAN BLASIM
Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak
Aus dem Arabischen von
Hartmut Fähndrich
Verlag Antje Kunstmann
Das Lied der Ziegen
Archiv und Wirklichkeit
Truppenzeitung
Alis Tasche
Die Jungfrau und der Soldat
Der Verrückte vom Freiheitsplatz
Ein Lkw nach Berlin
Die Leichenschau
Der Geschichtenmarkt
Die Albträume des Carlos Fuentes
Der Komponist
Die Grube
Dieses fatale Lächeln
Das Fenster im fünften Stock
Der irakische Messias
Ein Wolf
Der Hase in der Grünen Zone
Kreuzworträtsel
Lieber Beto
Killer und Kompass
Warum schreiben Sie nicht gleich einen Roman?
Sarsâras Baum
Der Mistkäfer
Tausendundein Messer
Die Leute standen Schlange, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Polizei musste Ordnung schaffen. Man sperrte die Hauptstraße, die am Radiogebäude vorbeiführte, für Autos. Es wimmelte von Taschendieben und fliegenden Zigarettenverkäufern. Außerdem gab es berechtigte Befürchtungen, ein Terrorist könnte sich unter die Wartenden mischen und alle diese Geschichten in eine Fleisch- und Feuermasse verwandeln.
Radio al-Dhâkira, der Erinnerungssender, war nach dem Sturz des Diktators gegründet worden, und von Beginn an bemühte sich die Direktion um eine möglichst tatsachenbezogene Gestaltung des Programms. Keine Nachrichtensendungen und keine Lieder. Nur dokumentarische Berichte und Sendungen, in denen es um die Vergangenheit des Landes ging. Besonders populär wurde das Radio mit der Ankündigung einer neuen Sendung unter dem Titel: »Ihre Geschichten – in Ihren Worten«. Aus allen Teilen des Landes strömten die Leute zum Funkhaus. Der Gedanke war simpel: Man würde Geschichten auswählen und sie von den nicht namentlich genannten Betroffenen vortragen lassen. Danach dürften die Zuhörer die drei schönsten bestimmen, die mit einem wertvollen Preis prämiert würden.
Es gelang mir, mein Antragsformular auszufüllen. In das Funkhaus gelangte ich nur mit großer Mühe. In der Menge brach da und dort Streit aus. Alte, Junge und Halbwüchsige, Beamte, Studenten und Arbeitslose waren gekommen, um ihre Geschichten zu erzählen. Über vier Stunden warteten wir im Regen, manche eher schüchtern, andere mit ihren Geschichten protzend. Ich beobachtete einen Mann ohne Arme, dessen Bart fast bis an den Nabel reichte. Tief in Gedanken versunken, sah er aus wie eine beschädigte griechische Statue. Ich bemerkte die Besorgnis des hübschen Burschen, der bei ihm war. Von einem Kommunisten, den man in den Siebzigerjahren im Gefängnis der Baath gefoltert hatte, erfuhr ich, der Bärtige habe eine wirklich preiswürdige Geschichte, doch er sei nicht wegen des Preises gekommen. Er sei nur verrückt, aber sein Begleiter, ein Verwandter, sei scharf auf den Preis. Der mit dem langen Bart war Lehrer gewesen. Eines Tages war er zur Polizei gegangen, um einen Nachbarn anzuzeigen, der mit aus dem Museum gestohlenen Antiquitäten handelte. Man dankte ihm für die Zusammenarbeit und der Lehrer ging mit erleichtertem Gewissen in seine Schule zurück. Doch dann schickten die Polizisten, die an dem Antiquitätenschmuggel beteiligt waren, einen Bericht ins Verteidigungsministerium, in dem behauptet wurde, das Haus des Lehrers sei eine al-Kâïda-Absteige. Das Verteidigungsministerium seinerseits informierte die amerikanische Armee, die einen Hubschrauber entsandte, der das Haus des Lehrers bombardierte. Seine Frau, seine vier Söhne und seine alte Mutter kamen dabei ums Leben. Er selbst überlebte, aber sein Verstand setzte aus, und er verlor beide Arme.
In meiner eigenen Erinnerung brodelten über zwanzig Geschichten aus den langen Jahren meiner Gefangenschaft im Iran. Ich war sicher, dass mindestens eine davon wirklich die Bombe des Wettbewerbs werden könnte.
Man ließ die erste Gruppe ein und erklärte dann der draußen wartenden Menge, heute würden keine weiteren Anträge mehr angenommen. Wir waren mehr als siebzig Personen. Man ließ uns in einem großen Saal Platz nehmen, der ein wenig aussah wie eine Studentencafeteria. Ein Mann in einem schicken Anzug teilte uns mit, wir müssten erst einmal zwei Geschichten anhören, um uns mit dem Sendeformat vertraut zu machen; außerdem erläuterte er uns die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Vertrag, den wir mit dem Radio abschließen würden.
Dann dimmte man die Beleuchtung, und es wurde ruhig im Saal, wie im Kino. Die meisten Anwesenden zündeten sich eine Zigarette an, und wir versanken in einer dichten Rauchwolke. Die Veranstaltung begann mit der Geschichte einer jungen Frau. Ihre klare Stimme war von allen Seiten im Saal zu hören. Sie erzählte von ihrem Ehemann, einem Polizisten, den eine islamistische Gruppierung verschleppt hatte und dessen verwesenden Leichnam seine Mörder nach langer Zeit, während konfessioneller Auseinandersetzungen, zurückschickten, ohne Kopf. Als das Licht wieder anging, erhob sich ein Tumult. Alle redeten durcheinander wie ein Hornissenschwarm. Manche machten sich über die Geschichte der Frau lustig und behaupteten, ihre eigenen Geschichten seien sicher abstruser, brutaler und verrückter. Eine alte Frau, die an die neunzig sein mochte, winkte abfällig mit der Hand und brabbelte: »Was ist denn das für eine Geschichte? Wenn ich meine einem Stein erzählen würde, würde der vor Schmerz zerbrechen.«
Der feine Herr trat wieder auf und mahnte zur Ruhe. Er erklärte mit ein paar wenigen Worten, die beste Geschichte müsse nicht unbedingt die schrecklichste oder die traurigste sein. Das Wichtigste seien Authentizität und Erzählstil. Es müsse auch nicht unbedingt um Krieg und Totschlag gehen. Diese Feststellung ärgerte mich. Doch ich bemerkte, dass die meisten Teilnehmer sich nicht um diese Hinweise scherten. Ein Mann vom Ausmaß eines Elefanten flüsterte mir ins Ohr: »Was furzt denn der feine Pinkel. Eine Geschichte ist, was sie ist, ob schön oder Scheiße.«
Wieder wurde das Licht gedimmt, und wir lauschten der nächsten Geschichte:
Sie merkten, dass sie mich mit Scheiße fütterte. Eine Woche lang mischte sie sie in den Reis, den Kartoffelbrei und die Suppe. Ich war ein bleiches Bübchen von drei Jahren. Mein Vater drohte ihr mit der Scheidung, was sie aber nicht kümmerte. Ihr Herz war auf immer verhärtet. Sie konnte mir nie verzeihen, was ich getan hatte, und ich schaffe es bis heute nicht, ihre Erbarmungslosigkeit zu vergessen. Als sie an Gebärmutterkrebs starb, hatten mich die Stürme des Lebens schon sehr weit weg getragen. Gebrochen und gedemütigt kehrte ich nach dem Vorfall mit den Tonnen dem Land den Rücken, von Angst gejagt. Eines Nachts nahm ich Abschied von meinem Vater. Er begleitete mich auf den Friedhof, wo wir gemeinsam die Fâtiha über dem Grab meines Onkels sprachen. Dann umarmten wir uns, und er steckte mir ein Bündel Geldscheine zu. Ich küsste ihm die Hand und verschwand.
Wir lebten in einem armen Viertel in Kirkuk, einer Gegend ohne Kanalisation. Die Leute ließen sich für drei Dinar in ihren Häusern eine Senkgrube anlegen. Der kurdische Gemüsehändler Nausâd war der Einzige im Viertel, der so etwas anlegen konnte, und nach seinem Tod übernahm sein Sohn Mustafa diese Arbeit. Man fand Nausâd nach einem nächtlichen Brand verkohlt in seinem Laden, und niemand hatte eine Ahnung, was er in dieser Nacht dort getrieben hatte. Einige behaupteten, er habe Haschisch geraucht, was mein Vater aber nicht glaubte. Er hatte für jede Art Katastrophe seine Lieblingsweisheit: »Uns ist alles bestimmt in dieser vergänglichen Welt, es steht geschrieben.« So glaubte ich als Kind, unser Leben sei in Schulbüchern und im Kiosk des Zeitungsverkäufers festgehalten. Vater wollte mir mit all seiner Güte und Liebe meine Kindheit retten. Er war den Menschen und dem Leben auf eine Weise dankbar, die mir bis heute unverständlich ist. Er war wie ein Heiliger auf einem menschlichen Schindanger. Die Katastrophen trafen uns alle zwei Jahre. Aber Vater weigerte sich zu glauben, dass es so etwas wie einen mysteriösen Fluch gebe, den die Zeit einfach so mitbringt. Vielleicht führte er ihn auf das vorherbestimmte Schicksal zurück. Wir wurden von überall her bombardiert – vom Unbekannten, von der Wirklichkeit, von Gott, von den Menschen, ja selbst die Toten bombardierten uns mit Qualen. Mein Vater versuchte auf verschiedene Weisen, mein Verbrechen zu begraben. Jedenfalls wollte er es aus dem Gedächtnis meiner Mutter tilgen. Doch ohne Erfolg. Schließlich resignierte er und überließ die Aufgabe dem Bulldozer der Zeit, in der Hoffnung, dieser würde es richten.
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