An jenem Morgen zeigten die amerikanischen Aufklärungsbilder natürlich nicht das Schreien im zweiten Stock. Es war gedämpft und verzweifelt und kam vom Ende einer Welt in Todesangst. Es erreichte den leeren Nähsaal, der so trist wirkte wie eine Geisterstadt bei Sonnenuntergang. Fâtin schrie und weinte die ganze Nacht wie ein Tier auf der Schlachtbank. Sie weinte und greinte und entfachte mit ihrem Geschrei das Feuer in der Kammer für Nähutensilien, während Hamîd in einer Ecke hockte und versuchte, seine Hände unter Kontrolle zu bekommen, die zitterten wie ein Ast im Sturm. Auch meine Tante Sainab weinte bitterlich, jedes Mal, wenn sie die Ereignisse jenes Tages wiedererzählte. Sie beschuldigte alle, dann bat sie Gott um Verzeihung für ihren Argwohn. »Wir hatten unsere Arbeit abgeschlossen«, erzählte sie. »Die Mädchen waren im Umkleideraum. Einige zogen sich rasch um und verschwanden. Ich hatte während der letzten Arbeitsstunde Fâtin einen Brief von Hamîd gebracht, in dem er sie zu einem Gespräch im zweiten Stock bat, während sich die anderen umzogen. Fâtin war, mit der Entschuldigung, sie leide an Durchfall, aufs Klo gegangen. Ich hatte angenommen, Hamîd wollte sich mit ihr nur ein paar Minuten lang unterhalten. Fâtin musste einen der Busse erreichen, die uns in die Stadt brachten. Natürlich ging es an jenem Tag in den Bussen besonders laut, lustig und lachend zu. Schließlich hatte es überraschend Ferien gegeben. Warum Fâtins Kolleginnen nicht merkten, dass sie nicht da war? Gott allein weiß es. Ich habe dir gesagt, dass ich einen anderen Bus genommen habe. Glaubst du etwa, Rachmân hätte dieses Verbrechen begangen? Nein, nein und nochmals nein, nicht Rachmân. Er war zu feige. Aber was, wenn der Oberst selbst sich an den beiden rächen wollte? Abu Fâdil behauptete, er habe wegen der Ferien die Türen im Oberstock nicht geschlossen, und Sabrîja bestätigte das. Die Türen zu den Räumen mit den Nähutensilien blieben im Allgemeinen offen. Außerdem dauerten die Ferien nur zwei Wochen. Warum, mein Gott nochmal, sind die Inspektoren nicht schon am zweiten oder dritten Tag gekommen? Was für ein finsteres Schicksal die geliebte Fâtin getroffen hat. Die Inspektoren kamen erst zwei Wochen nach Beginn der Ferien in die Fabrik. So ist die Welt. Begreif’s, wer’s begreift! Die Leute haben Angst.«
»Warum hast du ihnen nicht die Wahrheit gesagt?«
»Welche Wahrheit?«
»Von dem Brief. Vielleicht hätte dann jemand vermutet, Fâtin und Hamîd wären noch in der Fabrik.«
»Als Fâtins drei Brüder zu uns kamen und mit meinem Mann sprachen, habe ich ihnen die ganze Geschichte zwischen den beiden erzählt. Und da glaubten alle, sie wären in eine andere Stadt geflohen. Es gab sogar das Gerücht, sie hätten das Land verlassen.«
Hamîd nahm Fâtin, die an der Wand lehnte, bei der Hand. Er versuchte, sie zu einem Rendezvous während der Ferien zu überreden. Aus dem Umkleideraum waren die Stimmen der Mädchen zu hören. Hamîd öffnete die Tür zur dritten Kammer mit Nähutensilien, zog Fâtin hinein und schloss leise die Tür. Mitten im Raum lag ein großer Haufen Uniformen, die wegen irgendwelcher Schnittfehler nicht zu gebrauchen waren. Sonst gab es nur noch ein paar Schachteln mit Nähutensilien: Fäden, große Stoffscheren und verschiedene Kleinigkeiten. Fâtin ließ sich auf die Uniformen fallen und Hamîd bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen, deren Genuss Fâtin sich hingab, immer darauf bedacht, ihre Seufzer zu unterdrücken. Plötzlich hörte sie Schritte, die sich auf dem Gang näherten.
Auch er habe die Schritte gehört, erzählte Soldat Hamîd al-Sajjid dem Militärgericht, und sich gemeinsam mit Fâtin unter dem Uniformenhaufen versteckt. Dann hätten die Schritte innegehalten, die Tür habe sich ein wenig geöffnet, eine Hand habe sich hereingeschoben, ohne dass jemand hereingekommen sei. Sie habe das Licht im finsteren Zimmer angemacht und danach gleich wieder gelöscht.
»Haben Sie die Hand gesehen? War es die Hand eines Mannes?«
»Das weiß ich nicht, ich habe die Hand nicht gesehen.«
»Woher wissen Sie dann, dass niemand ins Zimmer kam?«
»Ich habe das angenommen wegen dem Licht, das vom Flur hereinkam.«
»Und was geschah dann?«
»Jemand drehte den Schlüssel im Schloss und ging.«
»Und nun sagen Sie mir in Gottes Namen, wenn Sie denn einen Gott haben, haben Sie sie vergewaltigt?«
»Ich schwöre bei Gott, meinem allmächtigen Herrn, dass ich sie nicht vergewaltigt habe. Am dritten Tag waren wir am Verdursten. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, die Tür aufzubrechen. Und sie sagte, den Raum zu verlassen würde für uns ebenso den Tod bedeuten, wie darin zu bleiben. Wir müssten so oder so sterben. Dann bat sie mich, mit ihr zu schlafen.«
»Wussten Sie, dass sie noch Jungfrau war?«
»Ja, das wusste ich.«
»Hören Sie! Sie sind ein Satan, ein Mörder, ein Hund, ein Hurensohn. Sie hätten dort, in diesem Raum da, verdursten und verhungern sollen. Aber Satane wie Sie haben Glück. Ich könnte Ihnen hier und jetzt eine Kugel durch den Kopf jagen, und niemand würde mich zur Rechenschaft ziehen. Sie haben vom Fleisch und Blut einer Toten gelebt. War sie noch am Leben, als Sie Ihr zweites ekelerregendes Verbrechen begingen?«
»Ich schwöre Ihnen, Herr Richter, ich war nicht bei Bewusstsein. Sieben Tage waren wir schon in dem Zimmer eingesperrt. Und Fâtin lag tot da, mitten im Raum.«
»Aber der medizinische Bericht sagt, dass sie noch nicht tot war, als Sie ihr die Finger abgeschnitten haben.«
»Ich schwöre Ihnen, sie war tot. Ich war zu jenem Zeitpunkt vor Hunger, Durst und Erschöpfung nicht mehr in der Lage, die Augen zu öffnen. Ich habe versucht, etwas Urin zu trinken, aber …«
»Aber was? Sie haben von ihrem Blut getrunken. Nehmen wir an, Sie wären ein Mensch aus Fleisch und Blut, warum in Gottes Namen haben Sie dann gerade drei Finger von ihr gegessen? Warum nicht irgendeinen anderen Teil ihres Körpers?«
»Ich habe gedacht, vielleicht empfindet eine Tote ja auch noch Schmerz, dann aber vielleicht noch am wenigsten an den Fingern.«
»Hamîd al-Sajjid, haben Sie Fâtin Kâssim drei Finger von ihrer Hand abgeschnitten?«
»Ja, Herr Richter.«
»Haben Sie diese drei Finger mit einer Stoffschere abgeschnitten?«
»Ja, Herr Richter.«
»Haben Sie diese drei Finger gegessen?«
»Ja, Herr Richter.«
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