„Wirklich, Eric? Du möchtest, dass ich dir das Reiten beibringe? Es ist mir eine Ehre.“
Seine Stimme klang dabei stolz. Stephen führte Aragon aus der Burg heraus und sie gingen linker Hand an der Wiese vorbei.
„Wo gehen wir hin?“, fragte Deria neugierig.
„Hier ist ein Übungsplatz, wo die jungen Pferde eingeritten werden und hier üben auch die Ritter den Zweikampf“, erklärte Stephen.
Deria betrachtete den riesigen Platz, der von drei Seiten mit Wald umgeben war. Durch das Longieren der Pferde war auf der einen Seite ein großer Kreis ins Gras getreten worden. Am Ende des Platzes auf der anderen Seite stand eine kleine Hütte. Stephen band Aragon an das Longierseil und half Deria beim Aufsitzen.
„Ich soll ohne Sattel reiten?“
„Ja, damit du ein besseres Gefühl für das Pferd bekommst. Vertrau mir, Eric“, erklärte Stephen zuversichtlich. Aragon schritt im Kreis Runde um Runde dahin. Stephen mäkelte ständig an Deria herum.
„Nicht so steif, pass dich einfach dem Rhythmus des Tieres an. Mensch, Eric, du bist echt ein Angsthase!“
„Was meinst du wohl, warum ich nicht mehr reite, du Angeber“, fauchte Deria zurück.
Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie Stephens Ratschläge umzusetzen, doch je schneller Aragon lief, desto mehr wurde sie hin und her geschüttelt.
„Ich lerne das nie“, seufzte sie nach einer Weile.
„Ach Eric, irgendwann klappt es auch bei dir. Jetzt drück die Knie vorsichtig an die Seiten und schließ die Augen. Konzentrier dich auf Aragon! Spüre seine Bewegungen und vertrau dir selbst, du kannst das!“
Deria tat wie ihr geheißen. Sie konzentrierte sich auf Stephens Stimme und schloss die Augen. Sie hörte seine beruhigenden Worte und mit einem Mal empfand sie einen Gleichklang mit dem Pferd und hatte das Gefühl, sanft geschaukelt zu werden. Sie fühlte sich sicherer und automatisch löste sich ihre versteifte Haltung. Stephen lächelte, es war dem Elfjährigen nicht entgangen, wie sich die Haltung seines Schülers entspannt hatte. Er schnalzte mit der Zunge und Aragon fiel in einen leichten Trab. Deria merkte zwar, dass irgendetwas anders war, aber es machte ihr keine Angst mehr. Stephen sprach weiter:
„Strecke deine Arme seitlich in die Höhe und spüre die Kraft, die Aragon in dich überträgt.“
Sie tat wieder wie ihr geheißen und rief vor Entzücken:
„Ich hab das Gefühl, ich fliege. Oh, Stephen es ist so wunderbar!“ Freudentränen liefen ihr die Wangen hinunter.
„Jetzt öffne die Augen, gleich wirst du galoppieren!“
Und wieder schnalzte Stephen mit der Zunge, Aragon fiel in einen Galopp. Deria griff in die Mähne ihres Pferdes, aber sie passte sich sofort dem schnelleren Rhythmus an, ohne wieder zu verkrampfen. Sie lachte laut auf und schüttelte übermütig den Kopf.
„Ich kann wieder reiten!“
„Nun, morgen machen wir einen Ausritt und dann werden wir sehen, ob du reiten kannst“, hörte sie plötzlich eine tiefe Männerstimme.
Ihr Kopf flog herum und sie sah Guy dastehen, der ihr anerkennend zunickte, während er Stephen auf die Schultern klopfte.
„Das hast du sehr gut gemacht Stephen. Dein Vater und dein Bruder wären stolz auf dich.
„Danke, Sir Guy.“ Stephen bekam vor Verlegenheit rote Ohren.
Am nächsten Tag holte Guy Deria ab.
„Jetzt machen wir den versprochenen Ausritt. Ich werde dir ein wenig Olivers Ländereien zeigen.“
Ohne Angst bestieg Deria Aragon und folgte Sir Guy durch das Burgtor. Sie ritten gen Westen und nach mehr als zwei Stunden hielt er auf einem Hügel an.
„Von hier aus kannst du einen weiten Blick über Olivers Land werfen“, sprach er mit Stolz erfüllter Stimme.
„Es ist ein sehr fruchtbares Land. Und es ist wunderschön.“
Deria war das saftige Grün der Wiesen und das satte Braun der Erde nicht entgangen.
„Bei uns ist es auch schön, aber nicht so wie hier. Oliver kann sich glücklich schätzen“, meinte sie aufrichtig.
Fast den ganzen Tag ritten sie über Olivers Ländereien. Für Deria gab es viel zu sehen und sie konnte sich auch einen Eindruck verschaffen, was die Bevölkerung von ihrem Lehnsherrn hielt. Bewundernd musste sie anerkennen, dass Oliver bei seinen Untergebenen sehr beliebt war. Er fällte gerechte Urteile und schröpfte seine Bauern nicht. Und dies war selten in diesen Zeiten.
Als die Sonne langsam unterging, verkündete Guy:
„Es wird Zeit, umzukehren.“
„Ihr seid sein Onkel, nicht wahr?“
Deria wollte mehr über Oliver erfahren. Schon die ganze Zeit während des Ausrittes hatte sie darüber nachgedacht, wie sie das Gespräch auf Oliver bringen konnte, ohne dass ihre Neugierde allzu offensichtlich wurde. Guy war nicht dumm, er hatte die innere Unruhe an Deria bemerkt und nur darauf gewartet, dass sie endlich ihrer Neugierde freien Lauf ließ.
„Ja, mein Bruder war sein Vater.“
„Warum hast du nie geheiratet?“
Überrascht von der Frage, da er nicht damit gerechnet hatte, selbst im Mittelpunkt ihrer Neugierde zu stehen, zögerte er mit der Antwort.
„Nun, die Frau, die ich liebte, musste einen anderen heiraten. Und bis heute ist mir keine andere begegnet, die diese Frau aus meinem Herz verdrängen konnte.“
„Welch romantische Worte aus dem Mund eines Mannes“, entfuhr es Deria, die von dieser Antwort seltsam berührt war.
„Wieso sollte es das nicht? Hältst du Männer für weniger romantisch als Frauen?“, fragte Guy erstaunt.
„Ich möchte dich nicht beleidigen, Guy. Aber Männer sind in meinen Augen zu keinen tieferen Gefühlen fähig. Die einzige Ausnahme war mein Vater“, erwiderte Deria überzeugt.
„Und das denkst du auch von Oliver, oder?“, wollte Guy neugierig wissen.
„Oh, er ist ein Grobian und ein gefühlloser Mann. Die Frau, die ihn heiraten muss, tut mir jetzt schon leid“, sagte Deria naserümpfend.
„Eric, hüte deine Zunge. Du kennst Oliver nicht so gut wie ich. Dann würdest du anders von ihm denken.“
„Oh, ich kenne ihn gut“, bemerkte Deria trotzig und musste daran denken, als er ihr damals den Hintern versohlte.
„Lass dir gesagt sein, dass er sehr viele gute Eigenschaften hat, und dass er zu wahrer Liebe fähig ist. Nur wer ihn belügt oder betrügt, verdirbt es sich mit ihm.“
Bei diesen Worten warf er Olivers Mündel einen warnenden Blick zu. Deria wurde es heiß und kalt. Genau das tat sie die ganze Zeit: Sie log und betrog die Menschen um sie herum und vor allen Dingen Oliver. Irgendwann würde dieses Netz aus Lügen reißen. Und bevor das geschah, musste sie verschwinden. Schweigend ritten sie zur Burg zurück.
Mehr als zwei Wochen waren vergangen, als Oliver und sein Gefolge auf die Bärenburg zurückkehrten. Nach dem Besuch auf Burg Shenderton waren er und seine Männer noch auf die Jagd gegangen. Mägde und Knechte nahmen die Beute in Empfang, um die erlegten Tiere auszunehmen. Die vom Fleisch gesäuberten Felle übergab man dem Kürschner zur Weiterverarbeitung, Küchenmägde kochten das Fleisch ein oder hingen es zum Trockenen auf. Für die nächste Zeit waren die Vorratskammern der Burg reichlich gefüllt.
Oliver berichtete Guy von seinem Gespräch mit Howard und seiner Tochter.
„Dann ist ja alles gut gelaufen“, meinte Guy erleichtert.
„Und wie erging es meinem Mündel?“, fragte Oliver neugierig.
Guy erzählte seinem Neffen von dem Reitunterricht und dem gemeinsamen Ausritt. Das Gespräch jedoch verschwieg er ihm.
„Wo steckt sie jetzt?“
„Wahrscheinlich bei Stephen.“
„Gut, dann gehe ich mich erfrischen und mich dann mit einem Weib vergnügen“, sagte Oliver.
„Hältst du das für sinnvoll? Immerhin ist Deria deine Verlobte“, gab Guy zu bedenken.
Oliver runzelte die Stirn und sah seinen Onkel lange an, bevor er ihm antwortete:
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