Sören zögerte, entschloss sich dann aber die Aufgabe zu übernehmen. Wahrscheinlich hoffte er auf ein gutes Trinkgeld.
Aber der Koffer war sehr schwer, so schwer, dass Sören mit den Ecken an die Stufen stieß. Der Mann, der vorausgegangen war und nun auf der obersten Stufe stand, drehte sich um und schimpfte „He, Sie Trottel, passen Sie gefälligst auf! Sie ruinieren mir ja meinen ganzen Koffer!“
Sören war so erschrocken, dass er den Koffer augenblicklich fallen ließ und davonrannte. „He! Hallo, Sie!“, rief der Mann ihm noch nach, aber Sören rannte weiter und reagierte nicht auf das Rufen.
Der Mann ging an die Rezeption und sagte zu Meike, die gerade Dienst hatte, „Guten Tag. Ich bin Graf Gädgens von Plytenberg. Ich habe reserviert.“
„Guten Tag, Herr Graf“, antwortet Meike „ja, das geht schon in Ordnung. Wir haben Sie schon erwartet. Schön, dass Sie da sind. Herzlich willkommen.“
Sie händigte ihm einen Schlüssel aus und sagte „Wir haben für Sie Zimmer Nummer 4 reserviert.“
„Ist das auch mit Meerblick?“, fragte der Mann forsch.
„Ja, aber natürlich, so wie Sie es gewünscht haben.“
„Sorgen Sie bitte dafür, dass mein Koffer auf mein Zimmer gebracht wird“, sagte er schroff und zeigte mit dem Gehstock erst nach draußen auf seinen Koffer und dann die Treppe hinauf.
„Ich kümmere mich darum“, sagte Meike.
„Aber bitte heute noch“, donnerte der Mann und stapfte die Treppe hinauf.
Und noch während Meike überlegte, wen sie um den Transport des Koffers bitten könnte, klingelte das Telefon und besagter Herr brüllte in den Hörer „Wo bleibt denn mein Koffer?“
„Ja, kommt sofort“, stotterte Meike, ging hinaus und sah Sören flehentlich an. Aber Sören schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und kehrte weiter den Plattenweg.
Zum Glück kam gerade einer der Hilfsköche vorbei und als Meike ihn bat, sagte er „Das ist zwar nicht meine Aufgabe, aber für Sie mache ich doch alles.“
Meike quittierte den Satz mit einem dankbaren Lächeln und sah zu, wie der junge Mann sich mit dem Koffer auf der Treppe abmühte.
„Was hat der denn da drin?“, fragte er, „ein halbes Schwein, oder was?“
Als er die Treppe wieder herunterkam, sagte er leise zu Meike „Na, das ist mir vielleicht ein komischer Vogel. Anstatt sich zu bedanken sagte er, dass es auch höchste Zeit wäre.“
Für den Abend hatte der Graf den Chef des Hauses, Christian, um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Er begann etwas ausschweifend und sagte „Ich weiß, dass die Leute an der Theke, wenn sie ein paar Biere zu viel getrunken haben, oft redselig werden. Und so erfährt ein Wirt oft Dinge, die man sonst nicht erfährt. Vielleicht können Sie mir helfen.“
Er nippte an dem Rotwein, den er bestellt hatte und war offensichtlich mit dem Geschmack zufrieden.
„Ich suche eine Frau“, sagt er dann.
Christian sah ihn ungläubig an, aber der Graf stellte gleich klar „Nicht, was Sie denken. Ich suche keine Frau zum Heiraten und auch keine Geliebte. Nein, ich suche eine bestimmte Frau, die mir vor 30 Jahren `verlorengegangen´ ist, wenn man so sagen will. Sie heißt Käthe Sörensen und dürfte inzwischen etwa fünfzig Jahre alt sein. Sie war die Tochter unseres Gutsverwalters. Und als die Mutter an Kindbettfiber gestorben war und dann auch noch der Vater bei einem Reitunfall tödlich verunglückte, nahm meine Frau sich des Waisenkindes an. Später, als sie älter war, hat meine Frau sie zu ihrem persönlichen Dienstmädchen gemacht. Das ging ganz gut, bis zu dem Tag, als Käthe schwanger wurde. Und als meine Frau dann noch herausbekam, dass ich der Vater des Kindes war, hat sich das Verhältnis zwischen den beiden dramatisch verändert. Von diesem Tage an hielt meine Frau Käthe wie eine Sklavin und demütigte sie, wo immer sie nur konnte. Ich war machtlos, denn sobald ich mich einmischte und Käthe beizustehen versuchte, drohte meine Frau mir damit, die ganze Sache öffentlich zu machen.“
Er machte eine Pause, so, als ob er darüber nachdächte, ob er alles richtig dargestellt hätte. Dann fuhr er fort „Ja, und eines Tages war Käthe dann verschwunden. Niemand wusste, wohin sie geflohen war oder wo sie sich aufhielt. Alle meine geheimen Nachforschungen blieben ohne Erfolg.“
Er machte wieder eine Pause und nahm einen Schluck aus seinem Rotweinglas.
„Jetzt ist vor einem Jahr meine Frau gestorben und daraufhin habe ich mich auf die Suche gemacht. Schließlich ging es mir nicht nur um die Frau, sondern vor allem um das Kind, das ja immerhin mein Kind sein soll und um das ich mich kümmern will. Sehen Sie, aus meiner Ehe sind keine Kinder hervorgegangen und so wäre dieses Kind im Grunde Erbe meines gesamten beträchtlichen Vermögens. Die Suche ist für mich nicht nur eine Ehrensache sondern auch eine moralische Verpflichtung.“
Er nahm noch einen Schluck Rotwein.
„Gerüchteweise habe ich dann gehört, dass Käthe sich damals auf einer Insel versteckt haben soll. Also habe ich mit meiner Suche auf Sylt begonnen. Aber bisher ohne Erfolg. Borkum ist meine letzte Hoffnung. Sonst werde ich meine Suche wohl aufgeben müssen.“
In Christians Kopf hämmerte es. Er dachte an Sören. Die gesamte Beschreibung der Situation stimmte, auch die Umstände und die Jahreszahlen passten zusammen. Und die Frau hieß Sören-sen. Und dann noch der Spruch in dem Balken ` Lever dod as Sklav´. Solche Zufälle gibt es eigentlich nicht zweimal. Was sollte er tun? Wenn er seine Vermutung äußerte und dieser Mann Sören mit sich nehmen würde, um einen „anständigen“ Menschen aus ihm zu machen, wäre es für beide eine Katastrophe. Gewiss, Sören schlug sich als Hilfsarbeiter durch und lebte in einem alten Bootsschuppen. Aber das war sein Leben und irgendwie schien er sich auch in seiner Rolle wohl zu fühlen. Warum sollte man ihn da mit Gewalt herausreißen? Aber schweigen durfte er auch nicht. Also griff er zu einer List.
Er hatte vorhin zufällig die Situation mit dem Koffertransport beobachtet. Und darum sagte er nun „Es gibt hier schon einen jungen Mann, von dem niemand weiß, wo er eigentlich herkommt. Er ist geistig zurückgeblieben und spinnt manchmal ein bisschen. Ich beschäftige ihn gelegentlich als Hilfsarbeiter zum Rasenmähen oder Wegekehren.“
„Ach, Sie meinen doch nicht etwa den Trottel, der vorhin meinen Koffer ruiniert hat.“
„Doch“, sagte Christian, „genau den meine ich.“
„Nein, nein“, protestierte der Graf sofort, „das kann nicht mein Blut sein. Wir von Plytenbergs sind doch nicht vertrottelt. Wir führen unser Gut schon in der zwölften Generation. Nein, nein, den Trottel können Sie behalten.“
Christian war kein besonders gläubiger Mensch, aber jetzt sandte er doch ein Stoßgebet des Dankes gen Himmel.
Später ging Christian zu Sören und fragte ihn, ob er beschimpft worden sei. Sören nickte. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Der Mann reist morgen wieder ab.“ Sören sagte nur „gaud“ und bückte sich, um weiter das Unkraut aus der Rabatte zu zupfen. Christian griff in seine Tasche und gab Sören zehn Euro. „Das ist das Trinkgeld für den Koffer“, sagte er. Als Sören das Geld eingesteckt hatte, fragte Christian „Was machst du eigentlich mit dem Geld?“ Sören blickte sich um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand zuhörte und sagte dann ganz leise: „Ik köp Blomen för dat Graf von min Moder.“ Christian sah ihn erstaunt an „Aber du kannst doch gar nicht wissen, wo deine Mutter beerdigt wurde.“
„Ik weit dat ober“, antwortete Sören und fuhr in seiner Arbeit fort.
Sören, die Zweite: „De Wal“
Sören sollte Maria in den nächsten Tagen wiederholt beschäftigen. Denn er war ein paar Tage später schon wieder auf dem Weg zu ihr, als sie auf der Bank saß und las. Zunächst war sie ein bisschen skeptisch, wegen des Schreckens, den er ihr bei ihrer ersten Begegnung eingejagt hatte. Andererseits hatte Christian aber gesagt, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Und … sie wollte ja auch gerne hinter das Geheimnis kommen, das Sören mit sich trug und das er ihr anscheinend mitteilen wollte. Sie zauderte ein wenig und als Sören sich schon umgedreht hatte, um wieder zu gehen, rief sie „Nein, nein, Sören. Kommen Sie nur.“
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