»Mr. Williams, ich konnte einen Blick auf Ihre Mitschriften werfen und ich kann Ihnen prophezeien, dass ich mit dem Bericht nicht zufrieden sein werde. Beim nächsten Mal sollten Sie sich mehr notieren.«
Kaden blieb überrascht stehen, Nikolaj tat es ihm gleich. »Was?«
»Sie haben nichts aufgeschrieben, abgesehen von den Namen der Mitarbeiter und den Abteilungen.«
Kaden sah auf das Klemmbrett in seiner Hand und presste die Lippen fest aufeinander, um nicht etwas zu sagen, was er später bereuen würde.
»Ich erwarte Ihren Bericht dennoch bis Freitag, 15 Uhr. Und ich hoffe wirklich für Sie, dass Sie aus ihren Fehlern lernen. Papier und Stift sind dazu da, um sie zu verwenden und nicht nur schmückendes Beiwerk.« Nikolajs Stimme klang kühl. Distanziert. Kühler als sonst.
Kaden nickte nur knapp, sah nicht auf und lief dann zurück zu seinem Büro. Dort warf er das Klemmbrett hart auf den Schreibtisch. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen?! Genau wegen solcher Scheiße hatte er das nicht mehr tun wollen, nie wieder! Und trotzdem hatte er es getan, in der Hoffnung, dass die Zeit und sein Alter dafür sorgen würden, dass er sich nicht mehr mit solchen Menschen umgeben musste oder zumindest mit der Zeit gelernt hatte, damit umzugehen. Aber weit gefehlt. Er war wieder genau da! Es war wie damals in der High-School!
›Mr. Williams, ich konnte einen Blick auf Ihre Mitschriften werfen und ich kann Ihnen prophezeien, dass ich mit dem Bericht nicht zufrieden sein werde.‹
Kaden erweckte den Laptop zum Leben und öffnete das Schreibprogramm. Wie ein Wahnsinniger begann er, auf die Tastatur einzuhämmern und er wusste genau, was er hier gerade tat. Eine absolute Trotzreaktion, ausgelöst durch blanke Wut, Enttäuschung und einer Menge schlechter Erfahrungen, die er nie ganz verarbeitet hatte. Wut auf sich selbst. Auf diese Situation und ja, auch auf Nikolaj Sorokin. Es war ein Fehler, das wusste er. Und dennoch tippte er Buchstabe um Buchstabe, Wort für Wort. Jedes Wort schrieb er nieder. Er musste nur die Augen schließen und sah alles wieder vor sich. Jede Person, jede Haarfarbe, jede Augenfarbe, jeder Tonfall. Alles war da. Bis ins kleinste Detail und so schrieb Kaden keine Zusammenfassung, sondern eine über 40 Seiten umfassende Transkribierung des heutigen Meetings, in dem sich jedes Wort fand, das dort gesprochen worden war. Inklusive der Anmerkung, dass Mr. Faraday unter dem Tisch mit seinem Handy gespielt hatte. Entweder das, oder er hatte sich einen runtergeholt, aber irgendwas hatte der Mann unter dem Tisch gemacht. Immer noch wütend druckte er das Ganze schließlich aus, nahm die Seiten aus dem Drucker und lief zu Nikolajs Büro. Kaden hatte keine Ahnung wie spät es war, aber es war erneut dunkel draußen geworden. Vor Dareas Tresen blieb er stehen.
»Kann ich rein?«, fragte er mühsam beherrscht, die Hände vor unterdrückter Wut zitternd.
Darea sah auf, irritiert über die fehlende Begrüßung, die sie für gewöhnlich verlangte. Allerdings sah sie etwas in Kadens Gesicht, vor allem in dessen Augen, und sie roch etwas, ohne es genau beschreiben zu können, was sie nicken ließ. Wenn auch mit gerunzelter Stirn.
»Ja. Er ist gerade frei«, sagte sie und deutete auf die Tür.
Nikolaj saß auf einem der Sofas, einen Laptop auf dem Schoß, an dem ein kleiner USB-Stick blinkte. Über die In-Ear-Kopfhörer lauschte er einem Song des aktuellen Album einer Künstlerin, die er unter Vertrag hatte. Als nun aber die Tür aufging und er diese Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, sah er auf und zog die Stöpsel aus seinen Ohren. Kadens Blick war mehr als entschlossen und aus irgendeinem Grund trug er einen dicken Papierstapel auf dem Arm. Für einen Moment fragte sich Nikolaj, ob er das Klopfen überhört hatte oder ob Kaden tatsächlich einfach ohne zu klopfen eingetreten war.
Dieser trat jetzt auf ihn zu, blieb vor dem kleinen Couchtisch stehen. Härter als nötig ließ er den Stapel an Blättern auf den kleinen Tisch fallen.
»Hier haben Sie Ihren Bericht. Und auch wenn Sie mir prophezeit haben, dass Sie damit nicht zufrieden sein werden, habe ich es trotzdem versucht. Viel Glück bei der Suche nach einem Fehler.« Jetzt knallte er einen schwarzen Edding oben auf den Stapel. »Und wenn Sie fertig sind, dann können Sie mir gerne ein dickes, fettes Freak auf die Stirn schreiben. Auch das wäre nichts Neues«, blaffte er.
Er vergriff sich hier gerade in allem. Im Ton. Im Benehmen. Das war absolut nicht angebracht, Kaden wusste das, aber er hatte die Nase voll. Er war es leid. Und genau darum hatte er den Job auch nicht annehmen wollen. »Ich mache jetzt Feierabend.« Damit verließ Kaden das verglaste, sauteure Büro, das er vermutlich zum letzten Mal betreten hatte, ohne eine Antwort abzuwarten. Er zog die Tür viel zu laut hinter sich zu, so dass das Glas wackelte, und spürte Dareas schockierten Blick in seinem Nacken.
Sie sprang sofort auf, als Kaden den Flur entlang lief.
»Was hast du getan?«, fragte sie, noch während sie die Tür aufstieß und sah Nikolaj an, sah auf den Stapel Papier und dann wieder zu ihm. »Was ist das?«
Wut lag in der Luft, nicht nur als Duft, sondern auch deutlich wie eine Aura spürbar. Auch Darea musste die Wut riechen können. Heiß und rot, metallisch wie der Geruch von Scham, nur viel intensiver und ein wenig bitter.
Leicht schüttelte Nikolaj den Kopf, weil er keine Antwort auf ihre Frage hatte. Stattdessen hob er den schwarzen Edding vom obersten Blatt. Die Seiten waren in sich ein wenig verrutscht. Nikolaj überflog die erste Seite. Runzelte die Stirn. Legte den Edding neben den Blättern auf den Tisch und überhörte Dareas Drängen, ihr zu sagen, was los war. Er hob die oberste Seite hoch, überflog die zweite und blätterte dann einmal durch den Bericht wie bei einem selbst gezeichneten Daumenkino.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte er fassungslos. Das war keine Zusammenfassung. Das war eine Abschrift! Kein Protokollant am Gericht hätte weniger Fehler machen können. Jedes Wort, jede Haarfarbe, jeder Name, jede Information! Mai Trans Bitte, die Auskunft darüber, dass der Marketingabteilung noch eine Genehmigung der Stadt fehlte, sogar Informationen, die er selbst nicht mitbekommen hatte wie die über Faraday. Als Nikolaj den Blick hob, um in Dareas Augen zu sehen, sah sie ihn ernsthaft besorgt an. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, um sie in diesem Moment greifen zu können. Wie war das möglich?
»Nik, jetzt sag mir, was los ist.«
Er strich sich durchs Haar, blickte wieder perplex auf den Stapel Papier. »Ich habe Mr. Williams gebeten, eine Zusammenfassung vom Meeting zu schreiben. Aber er hat sich nichts notiert, nur ein paar Namen von den Abteilungsleitern und deren Bereiche. Daraufhin sagte ich ihm, dass ich ihm voraussage, dass ich mit dem Bericht nicht zufrieden sein würde.« Dann drehte er ihr nur wortlos den Papierstapel zu.
Sie lauschte seinen Worten, hob nur eine Augenbraue, die ihr Missfallen ausdrücken sollte, und dann griff sie nach dem Stapel. Ihre Augen flogen über das Papier. Und wurden immer größer. »Das ...« Sie blätterte weiter. »Das ist ...« Sie trat um den Tisch und setzte sich dann neben ihn auf die Couch. Ihr Blick ging auf die Seiten. Wieder blätterte sie darin. Dann runzelte sie die Stirn. Und schlug Nikolaj schließlich mit ein paar der Seiten auf den Kopf. »Wieso bist du eigentlich immer so unsensibel?«
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass er so etwas kann.« Er deutete auf die Seiten. »Wie geht das überhaupt? Das ist doch verrückt!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich sehe so etwas zum ersten Mal«, gestand sie.
»Na wenigstens darin sind wir einer Meinung.« Nikolaj erhob sich, trat an den kleinen Getränkewagen und goss sich eine Neige Scotch ein. Schnell nippte er an dem Glas. »Das muss ein fotografisches Gedächtnis sein.« Sein Blick fiel auf den Edding. »Er war so wütend.« Der Geruch hielt sich noch immer hartnäckig im Raum und kribbelte Nikolaj in der Nase.
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