Nikolaj sah dem jungen Mann nach, der im Halbdunkel auf die Haustür zutrat und tatsächlich so aussah, als würde er jeden Moment im Gehen einschlafen. Lämmchen ... Darea hatte schon ganz Recht, der Vergleich drängte sich auf. Nik wartete, bis Kaden im Haus verschwunden war, bevor er den Motor erneut startete und den Heimweg einschlug. Sein Blick fiel auf die Papiertüte, die nun sein Beifahrer war. Kadens Duft hing noch hauchzart in der Luft und so wie es ihm schon öfter aufgefallen war, fiel ihm auch jetzt auf, wie er auf ihn reagierte. Wie sehr ihm diese Komposition zusagte. Nein, es wäre wirklich keine gute Idee gewesen, Kaden nach oben zu begleiten. Hinauf in eine Wohnung, in der die Luft vollends angereichert war mit diesem Duft aus Mandeln, Granatapfel, Baumwolle und Vanille.
Etwa 15 Minuten später fuhr er in seine Auffahrt, parkte den Wagen und betrat sein Haus. Er setzte sich an den Esstisch, um einen lauwarmen Burger und weich gewordene Pommes zu essen. Das Klingeln des Handys und der Name auf dem Display ließen nichts Gutes erahnen. Nikolaj hob ab und stellte auf Lautsprecher.
»Darea?«
»Was macht das Lämmchen?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Es ist im Trockenen«, formulierte Nikolaj vorsichtig und schüttelte den Kopf. Diese dämlichen Metaphern.
»Gut.« Sie klang tatsächlich zufrieden.
»Du hast doch nicht etwa einen Narren an ihm gefressen, oder Darea?«
Das kurze Schweigen klang beinahe entrüstet. »Pah! Nein. Ich halte ihn nur für wichtig, damit du deiner Arbeit nachgehen kannst.«
Eine Lüge? Eine Halbwahrheit? Oder die volle Wahrheit? Schwer zu sagen bei dieser Frau. Nik schob sich einen Pommesstreifen in den Mund, die Tüte knisterte leise.
»Was machst du gerade?«, fragte sie und Nikolaj sah auf die Reste vor sich.
»Ich esse.«
Er hörte sie sehnsüchtig seufzen. »Was muss ich tun, um mal wieder in den Genuss deiner Kochkünste zu kommen? Sag schon. Was gibt es heute bei dir?«
»Burger und Pommes.«
Eine Weile schwieg Darea am anderen Ende, aber er konnte sie atmen hören. »Kannst du das wiederholen?« Nikolaj seufzte leise und Darea schien sich noch prächtiger zu amüsieren. Er konnte es an ihrer Stimme hören, als sie weitersprach. »Die Frage ist ja jetzt wohl eher, ob du einen Narren an unserem Lämmchen gefressen hast, mein Lieber.«
»Unsinn Darea.«
Sie schnalzte mit der Zunge wie sie es vorhin getan hatte. »Kein Unsinn. Du würdest dir nie alleine Burger und Pommes holen. Und aus deinem ›Es ist im Trockenen‹ schließe ich, dass du Kaden nach Hause gebracht hast. Also habt ihr einen Zwischenhalt bei Master Burger gemacht, so wie ich dich kenne. Wenn schon Burger, dann die, hm?«
Nikolaj kniff leicht die Augen zusammen. »Wir sehen uns Montag, Darea.«
Damit beendete er das Gespräch und hörte sie noch lachen, als sein Handy stumm neben ihm lag. Er hätte ihr nichts von Burgern und Pommes sagen dürfen. Jede Information war zu viel in ihren Händen und sie war wie kein anderer Mensch in der Lage, aus noch so kleinen Hinweisen Schlüsse zu ziehen, die ihm schon oft die Frage aufgedrängt hatten, ob da Magie im Spiel war. Diese Frau wusste zu viel, ahnte zu viel und lag mit ihren Vermutungen auch noch viel zu häufig richtig. Nämlich immer.
***
Kaden hatte Mühe, mit vollen Händen den Schlüssel in das Schloss zu bekommen, klemmte dazu vorsichtig die Cola zwischen linkem Unterarm und Oberkörper und drückte die Tür mit der Schulter auf. Er schaffte es tatsächlich, den Colabecher samt Inhalt in seine Einzimmerwohnung zu transportieren und seufzte bei dem Anblick. Er war nicht wirklich zum Aufräumen gekommen in den letzten Tagen. Auf dem kleinen Küchentisch lag alles voller Bücher und Zettel, genau wie auf dem Stubentisch. Das Schlafsofa hatte seit Tagen nicht mehr als Sofa gedient, im Grunde ja nicht mal richtig als Bett, da er kaum geschlafen hatte.
Zwei Bücher schob Kaden auf dem Küchentisch zur Seite, stellte das Essen dort ab und hängte den Mantel über den Stuhl. Kurz wusch er sich die Hände, bevor er, während der Fernseher lief, den Burger verschlang. Master Burger machte die besten Burger. Das Gemüse war immer frisch, das Fleisch saftig, der Bacon knusprig und sie sparten nicht an Soße. Das war überhaupt das Beste daran. Man sah hinterher aus wie ein Schwein, aber es schmeckte grandios. Nur eines wurde ihm wie so oft bewusst. Er mochte es nicht, alleine zu essen. Auch der Fernseher half da nicht.
Ihm fehlte seine Mutter. Natürlich gehörte es dazu, auszuziehen. Aber Kadens Mutter und er hatten sich immer gut verstanden und es war eher dem sozialen Druck geschuldet gewesen, dass er ausgezogen war. Er hatte es geliebt, mit ihr zusammen zu Abend zu essen. Dabei einen Film zu sehen oder über Unsinnigkeiten zu diskutieren. Sie war die Einzige, die ihn so kannte, wie er wirklich war. Er knabberte an einem Pommes, als ihm bewusst wurde, dass er lange nicht mit ihr gesprochen hatte. Tief seufzte er und angelte nach seinem Handy. Das Gespräch war kurz. Denn er war nach wie vor verdammt müde. Aber sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Egal ob er noch so viel zu lesen hatte. Sie fehlte ihm und gegen ein Mittagessen war ja wohl nichts einzuwenden.
Sie trafen sich bei ihrem Lieblingsitaliener und Kaden lächelte, als sie das Restaurant betrat und er sie kommen sah. Sie sah toll aus. Wie immer. Ihr Haar hatte die gleiche rötlich braune Farbe wie seines, war aber bedeutend länger.
Sie umarmten sich lange zur Begrüßung und tief sog Kaden ihren vertrauten Duft ein, den sie mit einem leichten Parfum unterstrich.
»Oh Honey, du siehst müde aus.« Sie legte ihre Hände an seine Wangen und küsste ihn auf die Stirn. »Und hast du abgenommen?«
Nachdem sie bestellt hatten, griff sie nach seinen Händen und sah ihn fest an. »Und jetzt erzähl mir alles. Bis ins kleinste Detail. Von deinem neuen Chef. Und dieser ... Wie hieß sie? Darea Harrison?«
Kaden nickte.
»Ich möchte alles wissen. Schläfst du denn auch genug?« Sie wirkte ernsthaft besorgt. Es tat so gut, sie zu sehen. In ihre dunklen, braunen Augen zu schauen. Sie wirkte so jung. Was kein Wunder war, denn sie war es auch. Sie war gerade 16 Jahre alt gewesen, als sie Kaden bekommen hatte. Selbst noch ein Kind. Und nachdem Kadens Erzeuger sie im Stich gelassen hatte, war es schwer für sie gewesen. Selbst noch ein Kind, auf einmal für ein Kind verantwortlich zu sein, ohne den Rückhalt des Vaters. Aber dank Kadens Großeltern hatte sie es geschafft, die Schule zu beenden und eine Ausbildung zu machen.
Kaden liebte sie. Sie hatte so sehr für ihn gekämpft und alles dafür getan, damit er eine schöne Kindheit hatte. Vielleicht hatten sie auch deshalb so ein gutes Verhältnis. Sie standen sich nahe, hatten viel gemeinsam gemeistert. Zwei gegen den Rest der Welt. Das hatte sie immer gesagt. Sie hatte ihm immer zugehört. Hatte ihn wieder aufgebaut, wenn er in der Schule erneut als Freak beschimpft worden war. Sie hatte alles getan, was ihr möglich war, um ihn zu fördern. Bis zu dem Punkt, an dem Kaden es nicht mehr gewollt hatte. An dem er beschlossen hatte, dass es einfacher war, einige Dinge einfach für sich zu behalten.
Von diesem Moment an war sein Leben auf die eine Art einfacher geworden, auf die andere schwerer. Aber bei ihr konnte er sein, wer er war. Und darum erzählte er ihr auch die ganze Geschichte. Wie die letzten zwei Wochen verlaufen waren. Die Shoppingtour mit Darea Harrison. Die Unmengen an Informationen, die er sich erarbeiten musste. Sie hörte geduldig zu, während sie ihre Pizza aß und Kaden seine Lasagne. Nach der Hälfte tauschten sie, wie sie es immer taten.
Sie legte schließlich die Gabel weg. »Und er greift dir nicht unter die Arme?« Sie rümpfte leicht die Nase.
Kaden schüttelte den Kopf. »Ich denke, er hat da keine Zeit zu. Und ich wusste ja, worauf ich mich einlasse. Genau genommen ist es ja meine Aufgabe, ihm unter die Arme zu greifen.«
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