„Ist es Ihnen recht, Sahib Major, wenn der Zug jetzt die Erlaubnis zur Abfahrt erhält?“
Der indische Aufsichtsbeamte sprach mit Respekt, während er gleichzeitig einen Blick über seine Schulter zum Bahnsteig warf, wo wildes Getümmel wogte.
Bei Ankunft des Zuges hatte der Bahnhof ein Bild heilloser Bestürzung und Verwirrung geboten. Da die Eisenbahn erst vor sehr kurzer Zeit in Indien eingeführt worden war, glaubten die Leute, ein solcher Zug müßte ein entsetzlicher, feuerspeiender Drache sein.
Die Inder, in Dhotis und Saris, manche in zerfetzte Lumpen gehüllt, andere nur mit einem Lendenschurz bekleidet, befanden sich alle in einem Zustand lautstarker Erregung. Straßenhändler schrien mit hohl tönenden Stimmen und spähten flehend durch die Fenster der mit Menschen vollgestopften Waggons, während sie Chapatis feilboten, bunt gefärbtes Konfekt, dazu orangefarbene und tiefrote Getränke. Priester in gelben Gewändern, Soldaten in scharlachroten Uniformen und schwer beladene Gepäckträger drängten sich Seite an Seite. Die unvermeidlichen leidenschaftlichen Abschiedsszenen waren zu sehen und laute Zurufe zu hören, Ermahnungen der Zurückbleibenden, die meinten, ihre Angehörigen oder Freunde setzten ihr Leben aufs Spiel, wenn sie mit diesem gefährlichen Ungeheuer reisten.
Major Iain Huntley jedoch beobachtete aufmerksam eine Gruppe von Männern, die sich hinter einem Gepäckstapel zusammendrängte. Er war überzeugt, daß diese Leute sich nur aus einem Grund hier eingefunden hatten - um Unruhe zu stiften.
Und richtig, noch im selben Moment, als der Aufsichtsbeamte sich von ihm entfernte und dabei seine rote Fahne ausrollte, brach die Hölle los. Mit lautem Geschrei stürzten die Männer vorwärts, Arme drohend erhoben oder Stöcke durch die Luft schwenkend. Fast wie von Zauberhand herbeigeführt, erschien eine Abteilung von Soldaten mit Musketen. Eilig rückte sie an, um die tobende Menge zurückzuhalten. Ihre Zahl war gering im Vergleich zu der der Unruhestifter, die es nur darauf anlegten, Verwirrung zu stiften, und mit hohen Sprüngen über die Menschen hinwegsetzten, die, auf den nächsten Zug wartend, auf dem Bahnsteig hockten, oder die kleinen Grüppchen einfach beiseite stießen - lauter Familien, die, zum Teil schlafend, bei ihren aus notdürftig verschnürten Bündeln und Paketen bestehenden Habseligkeiten saßen. Zu jeder Gruppe gehörte eine große Kinderschar, und auch die unvermeidlichen Ziegen fehlten nicht.
Der plötzliche Ansturm von hinten überraschte die Leute. Schreiend warfen sie sich zu Boden, und das Weinen ihrer Kinder und das Meckern ihrer Ziegen vermischte sich mit dem allgemeinen Tumult. Chapatis flogen nach allen Richtungen, die schweren Gläser mit den grellbunten Getränken zersprangen, eine Ziege riß sich los und galoppierte, von ihrem Eigentümer hitzig verfolgt, den Bahnsteig entlang.
Major Huntley tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Soldaten das Chaos schon in den Griff bekommen würden, wenn der Zug erst abgefahren war, und er begab sich ohne Eile zu seinem eigenen Abteil, an dessen offener Tür er seinen Diener sehen konnte, der ihn dort erwartete.
Die Räder begannen sich zu drehen, und das Schnauben und Zischen der Lokomotive übertönte alle anderen Geräusche. Allein von der Größe her schien die in England gebaute Maschine alles andere zu erdrücken.
Major Huntley war schon fast bei seinem Abteil, als zu seiner Überraschung plötzlich die Tür nebenan aufflog und eine Frau in Weiß auf den Bahnsteig hinaus sprang. Mit der Geistesgegenwart eines Mannes, der an das Unerwartete gewöhnt ist, erkannte er sofort, daß sie ein kleines Kind retten wollte, das, von den Anführern umgestoßen, hilflos und unbeachtet auf dem Bahnsteig lag, der Gefahr ausgesetzt, zertrampelt zu werden. So klein es war, kaum mehr als ein Bündel Lumpen, schrie es doch wie am Spieß.
Eine Sekunde bevor ihre ausgestreckten Arme nach dem Kind greifen konnten, riß Major Huntley die Frau herum und stieß sie in den Waggon zurück.
Der Zug rollte bereits mit stetig wachsender Geschwindigkeit vorwärts. Major Huntley blieb keine Zeit mehr, sein eigenes Abteil zu erreichen. Er schwang sich deshalb nach der Frau in den Wagen und schloß die Tür hinter sich. Als er sich umdrehte und hinaus blickte, sah er einen Wald drohend erhobener Fäuste und hörte die wütenden Schreie der Aufrührer, die sich wie eine um ihre Beute betrogene Meute Schakale gebärdete.
Während das Rattern der Räder schneller wurde und der Bahnsteig zurückblieb, wandte sich Major Huntley der Frau zu, die er so wenig artig in ihr Eisenbahnabteil befördert hatte.
Zu seiner Verwunderung war sie jung und ungewöhnlich hübsch. Sie hatte ihren Hut abgelegt. Das Haar fiel ihr in dunklen Locken um die weiße Stirn, während sie ihn aus großen, dunklen Augen, in denen goldene Lichtreflexe blitzten, zornig ansah.
„Dank Ihres Eingreifens“, bemerkte sie mit Schärfe, „kommt das kleine Kind nun bestimmt um.“
„Was tun Sie hier und wer sind Sie?“ fragte er mit beinahe unhöflicher Direktheit.
Er setzte sich, während er sprach, und sah sich mit ungläubiger Miene um. Er schien erwartet zu haben, daß sie in Begleitung reiste.
Jetzt jedoch stellte er fest, daß die Frau allein war, und ehe sie auf seine Frage antworten konnte, fügte er hinzu: „Wie kommen Sie in diesen Zug? Sie haben keine Berechtigung dazu.“
„Ich war der Meinung, daß jeder mit der Eisenbahn fahren kann, solange er seine Fahrkarte bezahlt.“
„Aber nicht mit diesem Zug! Er geht nach Saugor.“
„Ja, das weiß ich. Genau da möchte ich hin.“
„Nach Saugor?“
Das junge Mädchen richtete sich kerzengerade auf.
„Ich darf wohl annehmen“, bemerkte es nach einem Moment des Schweigens, „daß Sie die Befugnis haben, mich auf diese Weise ins Verhör zu nehmen?“
„Ich habe jede Befugnis dazu“, erwiderte Major Huntley mit Bestimmtheit. „Ich habe Befehl gegeben, keine Europäer nach Saugor reisen zu lassen. Die Stadt ist gegenwärtig Sperrgebiet.“
„Warum?“
Die Frage verlangte eine Antwort, doch er wich aus.
„Das hat amtliche Gründe“, erwiderte er. „Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
Er merkte schon, während er noch sprach, daß sie auch gar nicht die Absicht hatte, dies zu tun, deshalb schlug er jetzt einen gedämpfteren Ton an.
„Vielleicht“, meinte er, „sollten wir uns erst einmal miteinander bekannt machen. Ich bin Iain Huntley, bei den Bengal Lancers, wie Sie gewiß an meiner Uniform erkennen können, im Augenblick aber im Sondereinsatz im hiesigen Gebiet.“
Major Huntley schwieg und wartete auf eine Erwiderung. Das Mädchen, dachte er, war viel zu hübsch und zu jung, um ganz allein in Indien herumzureisen, schon gar in dieser Gegend und zu dieser Zeit.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Es war, als ärgerte es sie, ihm Auskunft geben zu müssen. Schließlich jedoch schien sie zu dem Schluß zu gelangen, daß es keinen Sinn hatte, störrisch zu sein.
„Mein Name ist Brucena Nairn“, sagte sie mit offenkundigem Widerstreben.
„Und Sie reisen nach Saugor?“
„Ja.“
„Darf ich fragen, wieso?“
„Ich besuche Freunde.“
„Glauben Sie mir, es ist nicht müßige Neugier“, versicherte Major Huntley, „aber ich würde gern wissen, wie Ihre Freunde heißen.“
Wieder hatte er das Gefühl, daß sie ihm am liebsten eine Abfuhr erteilt und ihn aufgefordert hätte, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Sie war immer noch verärgert - er sah es in ihren Augen, die, fand er jetzt, sehr ausdrucksvoll waren. Obwohl dunkel, war ein Strahlen in ihnen wie das der Sonne, die in wenigen Stunden das Land draußen in eine Hölle sengender Hitze verwandeln würde.
Читать дальше