Sie lief den Hafen in Richtung Norden entlang und machte sich auf den Weg, um den kleinen Berg zu besteigen, den jeder mit der Stadt in Verbindung brachte, und von dem aus man Split von oben betrachten konnte. Insgeheim wollte sie sich selbst von oben betrachten, mit einem Abstand, der es möglich macht, neue Pläne zu schmieden.
Sie atmete schwer, denn es ging steiler bergauf, als sie es in Erinnerung hatte. Nun fingen auch noch ihre Knie zu schmerzen an, der Körper schien mit ihrem Leben nicht mehr einverstanden zu sein und rebellierte. Endlich oben angekommen setzte sie sich in das Café und bestellte einen Kaffee und ein Glas Leitungswasser.
Nachdenklich schaute sie hinab zur schönen Stadt Split, die sie einst so sehr geliebt hatte, nun aber nicht mehr mochte. Auch die schöne Aussicht, bei der die Touristen ins Schwärmen gerieten, konnte nichts dagegen tun. Es war mild, die Sonne hatte sich endlich durchgesetzt, es roch nach Nadelbäumen, und die Vögel sangen. Sie wünschte sich, auch singen und fliegen zu können, weit fort, neu anzufangen, leicht sein, federleicht, vogelfrei.
Sie aber wurde immer schwerer, und das, obwohl sie oft Hunger und nichts zu essen hatte. Sie aß manchmal einen Tag lang gar nichts, auch heute hatte sie nichts als eine Banane zum Frühstück gehabt, die ihr am Obststand geschenkt worden war.
Sie spuckte ihren Kaugummi aus, als der Kellner die Getränke brachte. Spatzen kamen und flogen frustriert wieder fort, als sie merkten, dass der Kaugummi nichts für sie war. Josephine lächelte müde.
»Habt ihr ein paar alte Brotreste, womit ich die Spatzen füttern kann?«, fragte sie den Kellner, der verneinte. Sie sah wohl zu heruntergekommen aus, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, jedenfalls keinen, der sie weiterbrachte. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis und wollte fort von hier, ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, wo sie hin wollte. Neu anfangen, aber wie? Wo?
»Merda«, sagte sie immer wieder und schimpfte und haderte in verschiedenen Sprachen mit sich und der Welt, wobei ein Kauderwelsch aus Kroatisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, Griechisch und Spanisch herauskam. Vielleicht könnte sie in Zukunft mit ihren Sprachkenntnissen etwas anfangen? Ach, nein , sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder, das war Unsinn ohne jegliche Ausbildung und mit Kenntnissen, die für Übersetzungen nicht ausreichend waren. Ich müsste mich mit irgendetwas selbstständig machen , dachte sie, wohl wissend, dass sie zu kaputt hierzu war und nicht in der Lage, so viel Geld zu sparen, um überhaupt eine Chance zu haben. Selbstständig hatte sie sich anfangs auch beim Zeichnen der Porträts gefühlt; in letzter Zeit aber fühlte sich die Arbeit weder nach ihr selbst an, noch wollte sie dies ständig und auf Dauer weiter betreiben. Nein, es war endgültig vorbei. Dieser Entschluss stand fest. Kein einziges Porträt würde sie noch zeichnen. Nie wieder Menschen …
Sie erwachte auf einer der Bänke der Aussichtsplattform, auf die sie sich nach dem Kaffee gelegt hatte, um ein wenig Sonne zu tanken. Eine Uhr besaß sie nicht mehr, seitdem ihr Mobiltelefon zwei Tage nach dem Kauf spurlos verschwunden war. Dem Licht nach zu urteilen, musste es bereits vier oder fünf Uhr nachmittags sein. Sie hatte Hunger, kramte einen Kaugummi aus der Gürteltasche hervor und fluchte leise auf Deutsch vor sich hin, weil ihr auch der Schlaf keine Erleuchtung hinsichtlich ihrer Zukunft gebracht hatte. Sie hatte einfach keine Idee, wie sie ihr Leben in den Griff bekommen sollte, und schaute mit leeren Augen zum Himmel hinauf.
Durch einen groben Schlag mit der Handfläche auf ihren Rücken wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. An der Lache erkannte sie, dass es sich bei dem Störenfried um den alten Spanier handelte, der sie entdeckt hatte. Auch das noch!
»Hola, qué tal?«, fragte er wie immer, sie aber antwortete nicht, sondern nuschelte Undeutliches vor sich hin, um ihm zu vermitteln, dass er hier zurzeit nicht erwünscht war. Er aber ignorierte ihre kläglichen Versuche und schubste sie zur Seite, um es sich neben ihr gemütlich zu machen.
»Geh nach Hause«, sagte sie und zeigte in Richtung der Hütte, die er sich neben einem kleinen Zoo aus Brettern gezimmert hatte, so gut unter Büschen und Bäumen versteckt, dass sie seit Monaten nicht entdeckt worden war.
»No, no, da komme ich doch gerade erst her, meine Süße, ich habe dir aber ein Bier mitgebracht, hier, salud!«
Die beiden tranken ein paar Biere, wobei der Spanier es absichtlich ordentlich spritzen ließ, bei jeder Dose, die er öffnete. Laut lachend freute er sich über diese sexuelle Anspielung, die er mit unterschiedlichen Gesten unterstrich. Josephine ärgerte sich darüber, dass sie ihre guten Vorsätze so schnell über Bord warf, genoss aber das Bier, das ihr das quälende Hungergefühl nahm, dennoch in vollen Zügen.
Der Spanier war eigentlich ganz nett, manchmal sogar lustig, vor allem spendierte er ihr seit langer Zeit Getränke, aber er war ein unverbesserlicher Grapscher. Seine Lüsternheit wurde von Bier zu Bier größer, und es kam vor, dass er sich hemmungslos befriedigte, während er trank und versuchte, dabei ihre Brust zu spüren oder diese zumindest zu sehen. Manchmal zeigte sie ihm ihre Brüste freiwillig, damit er nicht nach ihnen grapschte. Es war ein Tauschgeschäft, auf das sie sich eingelassen hatte, als er sie einmal völlig durstig und hungrig vorgefunden hatte, vor vielen Monaten.
Er hatte ihr sein Leid geklagt, seit Jahren keine Frau mehr besitzen zu können, wie er es genannt hatte, und der Gestrandete hatte ihr irgendwie leidgetan. Der Spanier hatte ihr damals angeboten, für sie zu sorgen, wenn sie regelmäßig Sex hätten, darauf jedoch hatte sie sich nicht eingelassen. Er war alt und hässlich, und sie war in einem anderen Leben einmal eine Schönheit gewesen, zumindest gut aussehend.
Wie so oft wurde der Nachmittag quasi einfach weggetrunken. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre habe ich nun schon zum Zeitvertreib und zum Vergessen getrunken , dachte sie, als sie die Sonne untergehen sah, traurig über ihr Leben und wütend auf den Spanier und auf alle anderen in Split.
»Ich fahre jetzt nach Podstrana«, sagte sie entschlossen und stand auf.
»Was zum Teufel willst du denn da?«, lachte der Spanier, »etwa Porträts für die Millionäre zeichnen?«
»Ach, halt’s Maul. Ich will am Hafen sitzen und etwas essen, wenn du mir ein bisschen Geld gibst.«
Der Spanier griff in seine ausgebeulten Hosentaschen, und es kamen genug Scheine zum Vorschein, um gemeinsam essen zu gehen. Weder Josephine noch irgendjemand am Hafen konnte sich einen Reim darauf machen, woher der Spanier sein Geld hatte. Vermutlich ging er betteln, aber niemand konnte das bestätigen. Er schien ein Geheimnis in sich zu tragen, denn niemand kannte seinen Namen oder wusste, wo genau er herkam und was ihn nach Split verschlagen hatte. Er war älter als die anderen am Hafen, sein Haar war bereits ergraut und wurde immer länger.
»Ich komme mit und lade dich ein«, sagte er und erhaschte ihre linke Brust, als er ihr aufhalf.
»Na gut«, antwortete sie wohl wissend, dass es ohne seine Gesellschaft kein Abendessen geben würde.
Sie schlenderten die Hafenpromenade entlang, grüßten die Porträtzeichner. Andrea streckte ihr wütend die Zunge entgegen, wie immer, wenn er sie mit dem Alten sah. Heute konnte es sich Josephine nicht verkneifen, ihm »Grazie, Cyrus!« entgegen zu schmettern, und alle lachten über diese gelungene Retourkutsche, selbst Andrea.
Der Bus Nummer 60 war voll, und viele der Sitze dem Vandalismus zum Opfer gefallen, sodass die Menschen stehen mussten. Der Spanier ergriff die Gelegenheit der Nähe zum Schmusen, wie er es nannte.
In Podstrana liefen sie eine große Treppe hinab zum Jachthafen und zu dem Restaurant, in dem man Josephine schon einmal bedient hatte, und auch heute trotz ihres ungepflegten Äußeren freundlich grüßte, was bei Weitem nicht immer der Fall war. Sie teilten sich ein Nudelgericht und bestellten einen Tafelwein, und da Josephine sich über die Gesellschaft des Spaniers ärgerte, trank sie die erste Karaffe in einem Zug aus, sodass der Spanier danach einen Liter Rotwein bestellte, den billigsten, der hier zu bekommen war. Bald stritten sie sich, und da forderte der Kellner die beiden doch auf, das Restaurant zu verlassen.
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