Sie hatte kein Glück gehabt, keins der Häuser hatte sich als bewohnbar herausgestellt. Die meisten waren bereits abgerissen worden, bei einigen war kein Dach mehr vorhanden, und bei wieder anderen störte sie die Nähe zu Menschen, die zur Miete wohnten. Sie war daraufhin in die Stadt zurückgekehrt, um sich in dem einzigen guten Geschäft für Künstlerbedarf neues Handwerksgerät zu kaufen, das sie dringend benötigte, um Geld zu verdienen. Sie war sehr wählerisch und pingelig und brachte die Verkäuferin fast zum Wahnsinn, die vor sich nichts als eine Irre sah. Von ihrem letzten Geld kaufte sie schließlich einen DIN-A3-Block, Radiergummi und Anspitzer, Kohlestifte und Bleistifte in vier unterschiedlichen Härten, für mehr reichte das Geld nicht, was sie verärgerte.
»Ja, ja, ich brauche unbedingt eine Tüte, Sie sehen ja, ich habe keine Tasche, geben Sie mir bitte drei Tüten, oder vier«, befahl sie der arroganten Verkäuferin genervt, die ihr schließlich mit herablassenden Augenaufschlag und zusammengepressten Lippen drei Plastiktüten mit auf den Weg gab.
»Koza«, stöhnte sie, blöde Ziege , womit die junge, arrogante Verkäuferin gemeint war. Josephine lief durch ihren neuen Regenschirm gut geschützt an der Kathedrale vorbei und fand in der Altstadt einen schönen Platz unter einem Torbogen, der sie vor dem Regen schützte und an dem sie ein wenig versteckt sitzen und zeichnen konnte. Bei Besichtigung der Baracken hatte sie sich an einem Kiosk eine Flasche Wasser und ein Boulevardmagazin gekauft, in dem die Promis von heute abgebildet waren, die sie keine Spur interessierten, die sie aber als Reklamebilder brauchte, wenn sie Touristen oder Kroaten porträtieren und Geld verdienen wollte. Miley Cyrus sah sie beim Durchblättern und Mario Mandzukic, den kroatischen Fußballhelden, der jetzt für Bayern kickte, oder auch Cate Blanchett kam infrage. Drei Bilder sollten für das Erste reichen, die blöde Cyrus mit herausgestreckter Zunge in Bleistift, die anderen beiden Promis in Kohle. Mit dem Rücken zu den Passanten begann sie mit den unterkühlten Augen von Miley und stellte mit Schrecken fest, dass bei ihren eigenen Augen die Sehschärfe nachließ. Auch das noch , dachte sie, erst der Rücken, dann der Dauerhusten und das penetrante Sodbrennen, die Zähne und jetzt auch noch die Augen, mein Kapital!
Sie hatte wegen des trockenen Hustens bereits das Rauchen aufgegeben. Einen Arzt konnte sie nicht aufsuchen, da sie nirgends gemeldet und somit auch nicht versichert war.
Als sie mit den drei Porträts fertig war, fand sie diese zwar gelungen, hatte aber nicht bedacht, dass die Bilder eine Fixierung benötigten. Verärgert darüber, keinen Firnis kaufen zu können, legte sie so vorsichtig, wie es irgend ging, jeweils ein Blankotrennblatt zwischen die Motive, war sich aber im Klaren darüber, dass die Bilder so ungeschützt nicht lange halten würden. Sie würde bereits morgen neue Bilder anfertigen müssen.
Es wehte ein leichter Wind, und später würde es womöglich wieder Regen geben. Normalerweise mussten die Ausstellungsstücke am Hafen auch durch eine große Dokumentenhülle geschützt oder einlaminiert werden. Sie brauchte ihre Staffelei zum Zeichnen und zwei Klappstühle, einen für sich, und einen für das Modell.
Genervt klappte sie den Block zu, steckte ihn in eine Tüte, und verstaute die Zeichenutensilien, die inzwischen fast leere Flasche Wasser und die Zeitschrift in die andere. Ein wenig linkisch versuchte sie, trotz der Tüten den Hosenbund festzuhalten, denn sonst würde die zu große Hose rutschen, deren Saum ausgeleiert war. Steif und ungelenk lief sie zu der Stelle am Hafen, an dem sich die Porträtzeichner trafen.
Es war bereits dunkel, und jeder hatte seine eigene Lampe aufgestellt. Fast alle hier besaßen eine Genehmigung für ihr Gewerbe, und ein Restaurantbesitzer versorgte die Zeichner mit dem nötigen Strom. Diese dankten es ihm, in dem sie nachts ausnahmslos hier zusammen aßen und tranken, denn viele von ihnen lebten wie Josephine von der Hand in den Mund, und gaben das eben verdiente Geld sofort wieder beim Essen und Trinken aus.
»Sieh an, sieh an«, wurde sie vom Serben Zlatibor begrüßt, der torkelnd mit einer Flasche Wodka in der Hand auf sie zu kam, noch bevor sie sich einen Platz gesucht hatte, »da kommt ja meine Lederjacke.«
»Halt’s Maul, geh weg, ich habe viele Probleme«, sagte sie und schubste den betrunkenen Kollegen beiseite. Die anderen begrüßten sie herzlich.
»Hat jemand einen Klappstuhl für mich? Ich brauche Hilfe, habe kein Geld und keine Bleibe mehr, nur drei neue Bilder, nicht mal einen Plastikschutz und nichts!«
»Gib mir meine Lederjacke«, schrie Zlatibor, »dann bekommst du meinen Stuhl, ich mache Feierabend!« Er rülpste laut.
»Du trägst doch eine Jacke, und ich brauche irgendeinen Schutz, sonst friere ich total durch!«
Zlatibor wechselte vom Serbischen in die englische Sprache und brüllte: »Dann hole ich die kroatischen Bullen und erzähle ihnen, dass du keine Genehmigung hast, du fette, geile Schlampe!«
Die anderen versuchten zu schlichten, und schließlich ließ sich Zlati darauf ein, Josephine die andere Jacke zu geben, die nicht stank und die ihr auch wesentlich besser passte und gefiel. Sie kicherte in sich hinein, freute sich darüber, nun weniger zu stinken, um im selben Zug einen scheußlichen Geruch vom Hafen zu vernehmen, den sie von hier genau kannte, und den sie nicht zuordnen konnte. Weiter hinten, wo es nicht stank und die ordentlichen Porträtzeichner , wie man sagte, ihre Plätze hatten, konnte Josephine die Chinesin und den Russen erkennen. Sie hatten eine feste Bleibe, wurden als Künstler gesehen und anerkannt, waren besser gekleidet, und zeichneten in einer Technik, die den anderen voraus war. Kitsch-Technik , nannte sie Josephine, die Kunden wollen belogen werden, besser aussehen als in Wirklichkeit, und je weiter östlich man kommt, umso kitschiger müssen die Porträts aussehen.
»Josie, du kannst auch noch einen Stuhl für die Kunden von mir haben«, rief Andrea, ein Italiener, mit dem sie ab und zu Sex hatte. Vor seiner Alkoholsucht musste er einmal sehr hübsch ausgesehen haben, nun aber hinterließ der Wodka seine Spuren, und seine Hände zitterten so stark, dass seine Bilder immer schlechter wurden. Seine Dogge sprang an Josephine hoch, sie küsste den Hund auf die Stirn und schickte ihn dann wieder zu seinem Besitzer. Sie versuchte, ihre drei Reklamebilder mit Flaschen der Kollegen zu beschweren, sodass sie nicht wegfliegen konnten und doch einigermaßen gut zu sehen waren.
Sie hatte Glück. Eine junge Kundin sah sogleich das Bild von der Cyrus und wollte sich derart zeichnen lassen, dass auch sie ihre Zunge zeigte.
»Klar mach ich das, aber du kannst nicht zwanzig Minuten lang die Zunge rausstrecken, oder?«, lachte Josephine, und tat, was die Kleine wollte. Beim Verwischen der Kohle mit den Fingern brannte sich die Kohle weiter in die tiefen Hautschichten hinein und hatte die Farbe der Finger beinahe unwiderruflich verfärbt.
Oft zog Josephine den Neid der anderen Zeichner auf sich, da sie immer schnell Kunden fand, egal, wie sie selbst ausschaute und roch. Heute aber hatten alle Zeichenkünstler etwas zu tun, obwohl die Saison erst in zwei Wochen beginnen würde. Es war Wochenende, und viele kroatische Familien unternahmen einen Ausflug nach Split.
Die fertige Kohlezeichnung, die ausschaute wie eine Mischung aus dem Mädchen und Miley, wurde von deren Mutter bestaunt, und das Mädchen rollte es begeistert ein, nachdem Josephines Kollegen es mit Haarspray fixiert hatten. Josephine hatte jetzt zweihundertfünfzig Kuna in der Tasche und ging zum Restaurant von Dado, um sich eine gute Flasche Rotwein zu kaufen, die sie für die Nacht zum Zeichnen brauchte. Ein oder zwei Liter trank sie jeden Abend, je weniger sie zu tun hatte, umso leichter floss der Alkohol. Ihre männlichen Kollegen tranken meist Wodka und Bier, aber auf Bier hatte sie nachts keinen Appetit, und Schnäpse mochte sie nicht mehr, seit die Speiseröhre schmerzte.
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