Abb. 1: Fidus: Bade in Licht, Luft und Sonne. Sonnenjüngling auf Titelblatt der Zeitschrift Kraft und Schönheit (1905)
Abb. 2: Aktfotografie in der Stellung des Sonnenjünglings von Fidus, 1905, Fotograf unbekannt
In der Lebensreform wurde also, wie bereits angedeutet, ein Bild vom Menschen entworfen, das diesen als ganzheitliches und in die Natur eingebettetes Wesen betrachtet. Folgerichtig konnte er nur dann in Harmonie mit der Natur als äußerer Instanz, aber auch mit seiner individuellen, innerlichen Natur stehen, wenn Körper, Geist und Seele gleichermaßen berücksichtigt wurden. Der Mensch sollte nicht einem einzelnen Segment, dem Körper, dem Geist oder der Seele Vorrang einräumen, sondern ein harmonisches Gleichgewicht aller Aspekte fördern.
Ein publizistischer Klassiker dieses Ansatzes ist das umfangreiche Handbuch Die Natur als Arzt und Helfer des Mediziners und Lebensreformers Friedrich Wolf. 55In einer für Laien gut verständlichen Sprache legte er damit ein Kompendium an medizinischem Grundlagenwissen und naturheilkundlichen Methoden vor. Neben der „Erziehung zur Gesundheit“, in der alltagspraktische Aspekte wie Wohnen, Kleidung, Familienleben und Arbeitswelt besprochen werden, bietet er eine Fülle an heilenden und kräftigenden Methoden durch die Nutzung von Licht, Luft, Erde und Heilkräutern dar. Mit Fotografien, auf denen er selbst als Künstlermodell 56oder bei diversen körperlichen Ertüchtigungen zu sehen ist, belegt er sowohl die gesundheitliche als auch die ästhetische Wirksamkeit der „naturgemäßen“ Lebensweise. Wolf ließ sich gegen Ende der 1920er-Jahre ein Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung erbauen, das aufgrund der Architektur seine Vorstellungen einer ganzheitlichen Lebensweise ermöglichte. Auf dem eigens dafür geschaffenen Balkon konnte er zu jeder Jahreszeit nacktgymnastische Übungen an frischer Luft ausführen, bei denen er sich ablichten ließ ( Abb. 3). 57
Abb. 3: Friedrich Wolf bei der Gymnastik, 1930, Fotograf unbekannt
Der Aspekt der Ganzheitlichkeit lässt sich ebenfalls besonders deutlich in der Tanz- und Rhythmikbewegung erkennen, die in der gelungenen Bewegung den Ausdruck einer vollkommenen Harmonie der geistigen, seelischen und körperlichen Ausdruckskräfte sieht. 58Sowohl Leiblichkeit als auch Geist und Psyche wurden dabei als essenziell zur menschlichen Natur zugehörig erachtet und sollten idealerweise in gleichem Maße gepflegt werden. Besonderes Augenmerk richtete man darauf Einseitigkeiten zu vermeiden. So sollte sich der reformierte Mensch weder einer ungezügelter Sinnlichkeit noch einem reinen Intellektualismus hingeben. Diese beiden Extreme, die vermeintlich die bürgerlich-wilhelminische Gesellschaft prägten, stellten die Hauptkritikpunkte der Lebensreformer dar. Die Ausgewogenheit von Körper, Geist und Seele sollte sich beispielsweise in der Aktfotografie oder beim Tanz in Form einer harmonisch geformten, schönen Gestalt und einer entsprechenden Ausdrucksqualität zeigen.
In der sogenannten Zivilisation sah man hingegen eine Gefährdung für das ganzheitliche Wesen des Menschen, da diese entweder einen Intellektualismus ohne Bezug zu Leib und Seele fördere oder aber eine Körperlichkeit begünstigte, die ohne Mäßigung durch Geist und Seele ins Triebhafte entarte. Speziellen Wissensbereichen, wie den Naturwissenschaften oder der Medizin sowie den Institutionen der Bildung, respektive der akademischen Ausbildung der Künstler, sah man besonders skeptisch entgegen. Man warf ihnen eine rein materialistische und seelenlose Haltung vor, die den Menschen moralisch, geistig und körperlich schädige. Als besonderen Beleg der sittlichen Verrohung, die einem fehlgeleiteten oder vielmehr fehlenden Bezug zum Körper als natürlichem Element zugeschrieben wurde, erachtete man insbesondere die gesellschaftlichen Zerstreuungen und Vergnügungen. Genussmittel wie Alkohol und Nikotin, aber auch Pornografie und Erotik wurden als omnipräsente Zeichen einer „degenerierten“ Zivilisation angeprangert. Ferner bildeten die moralisch begründete Verfemung des nackten Leibes, die Zugeknöpftheit der Mode, das Korsett der Frau und die generell körperfeindliche Gesellschaftsmoral wesentliche Kritikpunkte der Lebensreformer. Es sei dies eine Lebensweise, die den natürlichen Menschen deformiere und ihm in seinem ganzen Wesen schade.
Im Verweis auf den Bezugsrahmen Natur legte die lebensreformerische Bildpublikation nach eigenem Verständnis Zeugnis vom ganzheitlichen Menschen ab, der sich in der Interaktion mit der Natur als gleichsam naturhaft erweise. Befreit von Hüllen, jedoch ohne erotisierenden Impetus, sollte sich der Mensch der wesenhaften Natürlichkeit des nackten Leibes wieder bewusst werden. Aus dem ganzheitlichen Ansatz der Lebensreform folgte die Forderung, dass die Pflege und Übung des Körpers gleichrangig neben der Pflege der inneren Kräfte stehen sollte. Mit den Mitteln der Reform sollte jeder Mensch seine innere Natur, sein Wesen vervollkommnen und zum Ausdruck bringen. Diese innere Natur stand demnach nicht nur in Abhängigkeit von individueller Ausprägung, sondern zeigte sich auch in einem biologistischen Sinne als geschlechtsspezifisch geprägt. So ging man davon aus, dass das biologische Geschlecht seine jeweilige innere männliche beziehungsweise weibliche Natur ausforme. Eine naturgemäße Lebensweise konnte demzufolge nur vollumfassend gelingen, wenn die geschlechtsspezifische Natur in ihren Eigenarten berücksichtigt und gepflegt wurde. Insbesondere den vermeintlich offensichtlich wahrnehmbaren Extremen der Effemination beziehungsweise der Verrohung des Mannes sei dabei entschlossen entgegenzuwirken.
Der spezifische Naturbegriff der Lebensreformer entwickelte sich also vor dem Hintergrund einer Zivilisationskritik, die sich dezidiert auf die als krankmachend empfundenen Faktoren und Lebensweisen der zeitgenössischen Gesellschaft richtete. Die daraus resultierenden Reformen sollten den individuellen Menschen als ganzheitliches Wesen und seine gesamte Lebensführung erfassen und darüber hinaus die Gesellschaft neu prägen. Da man die negativ konnotierte Zivilisation als Gegenpol und sogar Widersacher der Natur deklarierte, sich selbst hingegen als kulturelle Bewegung definierte, die durchaus einen ästhetisch-künstlerischen Anspruch vertreten konnte, bedurfte es einer neuerlichen Ausdifferenzierung der beiden Faktoren Natur und Kultur.
2.2 Natur als Schöpferkraft und Basis der Kultur
Die Begriffe der Natur und der Kultur sind, wie Maren Möhring für den Nacktkulturdiskurs ausführt, „komplex miteinander verschränkt“ 59. Diese Verschränkung bildet ein identitätsstiftendes Strukturmerkmal aller Lebensreformströmungen, die sich körperkulturellen Themen widmeten. Die Definition des Körpers – vornehmlich des nackten Körpers – als eigentlich natürlich und dessen Rückkehr zur Natur konnten nicht nur, sondern mussten vielmehr auf kulturellem Wege vonstattengehen. 60Die Kultur wurde als Ausdruck geistiger, seelischer und körperlicher Kräfte definiert und als unmittelbar zum natürlichen Wesen des Menschen gehörend. So heißt es in einem zeitgenössischen Artikel zur Körperkultur: „Und doch umfasst ja das Wesen der Kultur alle Lebensäußerungen des Menschen – auch die körperlichen.“ 61
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