Indy entspannte sich.
In den nächsten dreißig Minuten wurde die Latrine von zwei weiteren Männern aufgesucht, von denen leider keiner rotes Haar hatte. Schließlich, als der durch die Ritzen sichtbare Himmel sich langsam heller färbte und Indy sich innerlich schon auf sein Verschwinden eingestellt hatte, ging die Tür noch mal auf.
Ein bärtiger rothaariger Mann in weißem Unterhemd und Khakishorts kam herein und blieb, durch die schlechte Beleuchtung irritiert, stehen. Indy wußte auf der Stelle, daß das Alistair war.
»Man möchte meinen, daß Mussolini, bei dem die Züge den Fahrplan auf die Minute einhalten«, begann er mit englischem Akzent, »seine Leute so weit auf Vordermann gebracht hätte, daß sie kaputte Birnen auswechseln. Was für eine Schande. Hier ist es noch schlimmer als in einem Ferienlager.«
Er ging zu einem der Trichter, auf den noch etwas Licht fiel, zog den Reißverschluß seiner Hose runter und stierte beim Pinkeln mit leerem Blick auf die Wand. Indy kroch über den Balken Richtung Wand, kletterte vorsichtig hinunter, baumelte an beiden Händen und ließ sich zu Boden fallen.
Verunsichert drehte der Rothaarige sich um, um zu sehen, was sich hinter seinem Rücken abspielte.
»Himmel noch mal«, sagte er. »Sehen Sie, wozu Sie mich gebracht haben.«
»Sie pflegen alte Gewohnheiten«, sagte Indy, »aber wenigstens schließen Sie mittlerweile die Tür hinter sich.«
»Wer sind Sie?« fragte Alistair. »Mein Gott, Sie sind Amerikaner. Was haben Sie hier zu suchen?«
Indy forderte ihn auf, leiser zu sprechen.
»Ihre Schwester wartet außerhalb des Zaunes auf Sie«, erklärte er. »Und es wäre besser, wenn Sie freiwillig mitkommen, denn wenn nicht, so müßte ich Sie gegen Ihren Willen mitschleppen.«
»Alecia ist hier?«
»Kommen Sie, oder nicht?«
»Natürlich komme ich«, sagte er. »Warum sollte ich denn nicht kommen wollen? Seit Tagen warte ich darauf, daß jemand auftaucht und mich hier rausholt. Aber wer sind Sie und wie sind Sie hier reingekommen?«
»Wir haben keine Zeit für ausschweifende Erklärungen«, meinte Indy.
Alistair ging zur Waschstation und wusch sich die Hände.
»Lassen Sie das«, rügte Indy ihn. Draußen erwachte das Lager zum Leben, die Männer stellten sich auf den neuen Tag ein: Maschinen liefen an, Unterhaltungen setzten ein, die Hunde jaulten in ihren Gehegen und warteten ungeduldig darauf, gefüttert zu werden. »Lassen Sie uns verschwinden. Uns bleiben nur noch ein paar Minuten, bis es hell wird.«
Alistair trocknete die Hände an einem Handtuch ab. Indy f aßte ihn von hinten am Unterhemd und zerrte ihn zur Tür.
»Wir werden hier rausmarschieren, als wüßten wir ganz genau, was wir tun«, sagte Indy. »Wir werden uns ganz lässig zur Rückseite der Latrine begeben. Und dann werden wir uns mit den Bäuchen in den Staub werfen und - vorausgesetzt, die Hunde lassen uns in Ruhe - durch eine Öffnung im Zaun kriechen und zwar so schnell wie möglich. Falls Sie nur ein Wort verlieren oder wegzurennen versuchen, werde ich Ihnen das Genick brechen, bevor die Faschisten mich kriegen. Ist das klar?«
»Seien Sie nicht dumm«, sagte Alistair.
Indy studierte seinen Nacken.
»Was suchen Sie?«
»Nichts«, antwortete Indy. »Los.«
Gerade als ein Soldat die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, machte Alistair die Latrinentür auf. Geistesgegenwärtig zog Indy sich in eine dunkle Ecke zurück.
»Grazie«, bedankte der Soldat sich abwesend. Als er sich über das Waschbecken beugte, schlichen Alistair und Indy nach draußen. Die Sonne war noch nicht am Horizont aufgestiegen, aber es war schon so hell, daß sich die Umrisse der Gebäude deutlich abzeichneten.
»So werden wir niemals rauskommen«, flüsterte Alistair. »Ist schon zu hell. Die Wachposten in den Türmen werden uns bemerken und uns erschießen.«
»Gehen Sie weiter«, sagte Indy und lächelte, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Vielleicht haben sie bis in die Nacht rein gefeiert und müssen nun ihren Kater ausschlafen.«
»Die atlanticil« staunte Alistair.
Sie kamen zur Rückseite der Latrine. Indy drängte Alistair durch den Zaundraht. Erst dann legte Indy sich auf den Bauch und folgte ihm.
Auf dem Hundepfad, vor dem zweiten Zaun, machte Alistair eine Pause.
»Sie gehen lieber voran«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben eine Art Pfad durch die Minen ausgeheckt.«
»Minen?«
»Der ganze Bereich zwischen den beiden Zäunen ist ein Minenfeld«, verriet Alistair. »Wußten Sie das denn nicht?«
Indy zuckte mit den Achseln.
»Nun denn ... können Sie die Strecke erkennen, die Sie auf dem Weg nach drinnen genommen haben - vielleicht Vertiefungen im Sand, wo Ihre Knie und Ellbogen Mulden hinterlassen haben?«
»Nein«, sagte Indy. »Sieht für mich alles gleich aus.«
»Prima, wirklich prima«, meinte Alistair. »Haben Sie ein Messer bei sich?«
Indy nahm das Messer vom Gürtel und reichte es, mit dem Griff nach vorn, weiter.
»Na, dann müssen wir eben das Beste aus der Situation machen. Ich wußte immer, daß ich irgendwann in die Luft fliege, aber ich dachte eigentlich, daß sich das in meinem Labor ereignen würde.«
»Ihr Hemd«, sagte Indy. »Ziehen Sie es aus und stecken Sie es in Ihre Hosentasche. Es ist zu weiß.«
Alistair bewegte sich vorsichtig, bohrte alle paar Zentimeter die Klinge in den Sand. Mit an den Körper gepreßten Armen und kleinen Schritten folgte Indy seiner Spur.
Nach fünf Metern traf die Messerspitze auf etwas Hartes. Alistair malte mit dem Messer einen weiten Kreis, gab Indy ein Zeichen und ging weiter.
»Minen«, murrte Indy.
Auf den nächsten zwanzig Metern wiederholte sich dieser Prozeß mehrmals. Alistair schien völlig ruhig. Er arbeitete sich methodisch voran und ließ sich dabei Zeit. Schweiß tropfte von Indys Gesicht auf den Sand, und als er es nicht mehr aushaken konnte, sagte er: »Ich werde Sie ablösen.«
»Nein«, erwiderte Alistair. »Wir haben nicht mehr weit zugehen.«
Die scharlachrote Sonne kroch über den Dünenkamm, hinter dem Indy Alecia zurückgelassen hatte. Er hoffte inständig, daß sie mittlerweile längst fort war. Das Schicksal würde ihnen ziemlich hart mitspielen, wenn es zuließe, daß sie so weit kamen, nur um dann noch auf den letzten paar Metern erwischt zu werden. Er mußte daran denken, wie Alecia über Dinge, die man sich zu fest wünschte, gesprochen hatte.
»Wir müssen jetzt losrennen«, sagte Indy. »Uns bleibt keine Zeit mehr. Wir haben nur eine Chance, wenn wir das Risiko der Minen auf uns nehmen. Ist immer noch besser, als von einem Scharfschützen niedergestreckt zu werden.«
»Haben Sie mal gesehen, was von einem Mann übrigbleibt, der auf eine Mine getreten ist?« fragte Alistair ihn. »Dann werde ich lieber erschossen. Außerdem ... es sind nur noch ein paar Meter -«
Sand spritzte in Indys Gesicht. Einen Sekunde^r-uchteH später hörten sie deutlich den Schuß in der stillen Morgenluft, dessen Echo von den umliegenden Dünenkämmen widerhallte.
Hinter ihnen ertönte ein Horn.
Indy riß Alistair hoch und trieb ihn vor sich her. Sie rannten auf die nächste Düne zu.
In diesem Moment flog das Haupttor des Lagers auf. Schlingernd setzte ein großes Panzerfahrzeug zu einer Drehung an und nahm ihre Verfolgung auf. Ein Soldat bediente ein Gewehr Kaliber .30, das oben auf dem gepanzerten Fahrzeug installiert war.
Indy und Alistair steigerten ihr Tempo.
Sie hatten fast die schützenden Felsen erreicht, als das Panzerfahrzeug ihnen den Weg abschnitt. Der Lärm von drei Motorrädern verriet ihnen, daß die Flucht nach hinten unmöglich war. Die Soldaten in den Beiwagen zielten mit ihren auf Drehgelenken montierten Gewehren auf Indys Rücken.
Indy fiel auf die Knie. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellen Abständen. Um nicht umzufallen, stützte Alistair sich auf seine Schulter. »Tut mir leid, alter Mann«, brachte Alistair zwischen zwei Atemzügen heraus. »Aber wir haben uns nicht schlecht gehalten.«
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