Indiana rannte blindlings nach rechts und sah sich einem weiteren Ninja gegenüber, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte. Doch bevor er auch nur Gelegenheit fand, Schrecken zu verspüren, zuckte das Schwert in seiner Hand wie von selbst hoch und streckte den Japaner nieder. Ohne auch nur im Schritt innezuhalten, setzte Indiana über den zusammenbrechenden Ninja hinweg, warf sich durch eine weitere Tür — und fand sich plötzlich auf einer schmalen, an drei Seiten nur von einem hüfthohen Geländer aus Eis umgebenen Terrasse wieder. Hinter dem Eisgeländer ging es Hunderte von Metern senkrecht in die Tiefe, über der ein Meer aus grauem, wattigem Nebel lag und alles verhüllte.
Indiana drehte sich verzweifelt um. Moto und vier seiner Ninja-Krieger waren hinter ihm aus der Tür gestürmt und stehengeblieben, und auf Motos Gesicht breitete sich ein häßliches, triumphierendes Lachen aus. Er trug wieder ein Schwert, hielt es aber nun in der linken Hand. In der rechten lag eine Maschinenpistole, deren Lauf auf Indianas Brust gerichtet war.
«Sie waren sehr tapfer, Dr. Jones«, sagte er.»Aber ein tapferer Mann sollte auch wissen, wann er verloren hat. Geben Sie mir das Schwert!«
Indiana schüttelte den Kopf, wich einen Schritt zurück und spürte, wie er gegen das Geländer stieß. Moto machte einen weiteren Schritt in seine Richtung und blieb abrupt stehen, als Indiana den Arm ausstreckte und Dschingis Khans Schwert über den Abgrund hielt.
«Halt!«sagte Indiana, leise, aber in einem sehr entschlossenen Ton.»Noch einen Schritt, und ich werfe es hinunter.«
Motos Reaktion war anders als er erwartet hatte. Er kam nicht näher, aber er wirkte nicht erschrocken oder gar besorgt, sondern lachte nur noch breiter.»Das kannst du gar nicht, Amerikaner«, sagte er.»Versuch es. Laß es los. Wirf es in die Tiefe, und ich schenke dir das Leben.«
Indiana starrte ihn eine Sekunde lang ungläubig an — und ließ das Schwert los.
Wenigstens versuchte er es.
Es ging nicht. Seine Finger weigerten sich, sich zu öffnen. Die gleiche, unvorstellbare Kraft, die ihn befähigt hatte, Motos furchtbaren Schlägen standzuhalten und sich gegen seine Soldaten zu wehren, hinderte ihn jetzt daran, das Schwert loszulassen und es für alle Zeiten zu vernichten.
Der Japaner kam ganz langsam näher.»Sehen Sie, Dr. Jones?«sagte Moto mit einem neuerlichen häßlichen Lachen.»Es gibt eben Dinge, die nicht einmal der berühmte Dr. Indiana Jones weiß. Es gibt nur einen Weg, sich von diesem Schwert zu trennen.«
«Und … welcher ist das?«fragte Indiana stockend, obwohl er das unangenehme Gefühl hatte, die Antwort auf diese Frage sehr genau zu kennen.
«Du kannst dich nur von ihm trennen, indem du stirbst«, sagte Moto.»Und dabei helfen wir dir jetzt.«
Er trat zurück und machte eine befehlende Geste, und einer seiner Soldaten hob sein Gewehr und legte auf Indiana an. Ein Schuß krachte. Der Ninja taumelte, ließ seine Waffe fallen und sank wie in Zeitlupe auf die Knie. Auf seiner Brust breitete sich ein roter, rasch größer werdender Fleck aus.
Moto und die drei anderen Ninjas fuhren im gleichen Moment herum — und erstarrten, als sie die blutüberströmte Gestalt erblickten, die in der Tür hinter ihnen erschienen war.
Es war Dzo-Lin. Seine schwarze Uniform hing in Fetzen, und er blutete aus einem Dutzend Wunden, so daß es Indiana wie ein Wunder vorkam, daß er überhaupt noch die Kraft hatte, sich auf den Beinen zu halten. Ein irrer Ausdruck hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet. Rotgefärbter Speichel lief über seine Lippen. Trotzdem trug er das schwere Maschinengewehr, mit dem er sich in der Heiligen Halle verteidigt hatte, jetzt nur in einem Arm. Mit der anderen Hand umklammerte er Tamara, die sich ebenso verzweifelt wie ergebnislos aus seinem Griff zu winden versuchte.
«Keiner rührt sich!«schrie er. Er schwenkte das Maschinengewehr, um seine Worte zu unterstreichen, und weder Moto noch seine drei Soldaten wagten auch nur zu atmen.
«Amerikaner!«sagte Dzo-Lin.»Wirf das Schwert zu mir!«
Indiana reagierte nicht. Er hätte die Klinge nicht einmal dann losgelassen, wenn er es gekonnt hätte, denn er wußte, daß dies sein Todesurteil gewesen wäre. Und auch das Tamaras.
«Das Schwert!«sagte Dzo-Lin noch einmal, und das Maschinengewehr richtete sich jetzt auf Indy.»Gib es mir, oder ich hole es mir!«
Tamara bäumte sich mit verzweifelter Kraft im Griff des Chinesen auf, aber es gelang ihr nicht, sich loszureißen. Verzweifelt sah sie Indiana an.»Spring, Indy!«schrie sie.»Rette die Welt vor diesen Ungeheuern! Spring und nimm das Schwert mit!«
Und Indiana Jones tat etwas, das ihn selbst am meisten überraschte. Mit einer einzigen schnellen Bewegung schwang er sich auf die Brüstung des schmalen Eisgeländers und breitete die Arme aus.
Dzo-Lin, Moto und die drei Ninja-Soldaten erstarrten zur Reglosigkeit.
«Das wagen Sie nicht!«flüsterte Moto.»Dazu haben Sie nicht genug Mut!«
«Probieren Sie es aus«, sagte Indiana. Der Wind zerrte an ihm, als wolle er ihn mit unsichtbaren Händen in die Tiefe reißen, und er spürte, wie seine Kräfte zu schwinden begannen.
Vielleicht hatte Tamara recht. Vielleicht war sein Tod der einzige Weg, den von Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden anderer Menschen zu verhindern. Vielleicht mußte er sein Leben geben, um den Blutdurst dieses Schwertes zu stillen, ehe seine uralte böse Macht vollends wieder erwachte und ganz Asien in einem Ozean von Blut ertränkte.
«Dr. Jones!«
Indiana sah mit einem Ruck auf und gewahrte eine winzige, in ein schmuckloses, graubraunes Gewand gehüllte Gestalt auf einem schmalen Balkon hoch über seinem Kopf. Lobsang!
«Dr. Jones!«schrie der Tibeter.»Geben Sie es allen!«
Und Indiana begriff. Von einer Sekunde auf die andere erwachte er aus seinem Bann und warf das Schwert direkt neben dem Abgrund senkrecht in die Luft, so hoch er konnte.
Die Bewegung kostete ihn endgültig das Gleichgewicht. Den Abgrund im Rücken, ruderte er wild mit den Armen, dann gelang es ihm, sich zurückzuwerfen. Er stürzte schwer auf das Eis des Balkons, und im gleichen Augenblick rannten Moto und der Chinese los, um sich des Schwerts zu bemächtigen. Gleichzeitig ging auch Tamara zu Boden, griff aber noch in derselben Bewegung nach dem Maschinengewehr, das Dzo-Lin achtlos fallengelassen hatte.
Noch während Indiana auf dem Boden aufschlug, sah er, wie Moto mit beiden Händen das Schwert ergriff und sich herumwarf — und im gleichen Augenblick prallte Dzo-Lin von hinten gegen ihn.
Für eine Sekunde war es, als bliebe die Zeit stehen. Moto, Dzo-Lin und auch die verzauberte Klinge schienen reglos, wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, direkt über dem Nichts zu schweben, und noch einmal glaubte Indiana dieses kalte, durch und durch böse Licht zu sehen, das die Klinge ausstrahlte.
Dann zerbrach der Bann. Motos Schrei steigerte sich in unvorstellbare Höhen. Er kippte nach hinten und zur Seite, ließ das Schwert los und versuchte verzweifelt, die Balkonbrüstung zu ergreifen. Seine Hände fanden Halt an dem Eis, aber im gleichen Sekundenbruchteil stürzte Dzo-Lin hinter ihm in die Tiefe, klammerte sich seinerseits an Moto fest — und dieser doppelte Ruck war zuviel. Das Eis zerbrach wie dünnes Glas, und Moto und General Dzo-Lin verschwanden lautlos in dem grauen Nebel, aus dem sich Shambalas eisige Wände erhoben.
Irgend etwas fiel klappernd neben Indiana Jones auf den Boden, und mit seinem letzten klaren Gedanken registrierte er noch, wie Tamara das schwere Maschinengewehr mit beiden Armen hochriß und den Abzug betätigte.
Dann wurde ihm endgültig schwarz vor Augen.
Er erwachte auf einer schaukelnden Liege. Ein lange vermißtes Gefühl von Wärme und Weichheit umgab ihn, und er hörte Stimmen, die von weit her zu kommen schienen und in einer Sprache sprachen, die er nicht verstand. Dann erschien ein weißer, verschwommener Fleck über ihm und wurde ganz langsam zu Tamaras Gesicht. Sie wirkte bleich, und die überstandenen Anstrengungen hatten tiefe Spuren in ihren Zügen hinterlassen. Aber sie lächelte, und die Erleichterung in ihren Augen war nicht gespielt.
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