Alle vier sprangen von ihren Pferden. Sie zogen den zu Tode ermatteten Gefährten aus dem Ufergestrüpp. Joshua warf ihm eine Decke um. Uthman schickte ein Dankgebet zum Himmel.
»Setzt ihn zu Sean auf den Schimmel. Wird das gehen? Kannst du dich halten, Henri?«
»Wir sind immer zu zweit auf einem Pferd geritten«, flüsterte Henri de Roslin. »Adeo pauperes erant ut unum tantum equum haberent communem. Wir waren die armen Brüder Christi.«
Guillaume Imbert war außer sich. Er hatte die Würde seines Amtes völlig vergessen und schlug mit der dreifach geknoteten Kordel, die er von seinem Habit gerissen hatte, auf die Wächter ein. Auch die Berater des Königshofes konnten es nicht fassen.
»Wie konnte er entkommen! Ich habe mich nur eine einzige Nacht zur Ruhe begeben, und schon triumphieren Verrat und Unfähigkeit! Ich werde euch alle wegen Mittäterschaft hinrichten lassen! Und der Fluchtweg durch den Turm nach draußen? Warum kanntet ihr ihn nicht?!«
»Die Erbauer des Donjon sind schuld, Montseigneur«, jammerte ein Wächter, der rote Striemen im Gesicht hatte. »Der Gang war ein Geheimnis. Niemand kannte ihn.«
»Ich werde die Maurer alle der Ketzerei anklagen und verbrennen lassen! Ist die Inquisition in Frankreich etwa nicht mächtig genug, um ihre Feinde zu zermalmen?«
»Wer waren die Erbauer dieses Turmes?«, fragte Enguerrand de Marigny, der Minister des getöteten Königs, mit ruhiger Stimme.
Niemand wusste eine Antwort. Man ließ die Burgmannen aufmarschieren. Auch sie blieben ratlos. Schließlich fand man einen Beschließer. Er hieß Brugard und leitete die Domestiken des Schlosses. Der Alte wurde zusammen mit seiner Frau herangezerrt, er blickte ängstlich, schließlich sprach er mit leiser Stimme.
Von dem, was er zu berichten wusste, hatten die hohen Herren noch nie etwas gehört.
»Ich kannte die Erbauer natürlich nicht, ihr Herren, denn der Donjon steht schon seit hundert Jahren. Aber ich kenne die Lieder, die sie wahrscheinlich gesungen haben, denn sie haben sie handschriftlich niedergelegt. In der Bibliothek könnt ihr alles einsehen. Es müssen seltsame Leute gewesen sein. Jeder Stein war ihnen heilig. Sie sprachen: Die Finsternis des Chaos wich, die Wüste war erhellt, da baute Gott, der Schöpfer, sich zum Tempel diese Welt…«
»Und? Himmelherrgott! Was soll das Gerede?«
»Lasst ihn weiter sprechen, Generalinquisitor!«
»Fahre fort, guter Mann.«
»Sie glaubten, ihre Zeichen seien ein vertrauender Blick, der sich an ein vertrauendes Auge richtet. Er könnte nur von verständnisvollen Betrachtern verstanden werden. Von Menschen ohne Argwohn und Neid – wie auf Rosen die Perle des Himmels taut, so klar wird das Zeichen des Maurers geschaut – so sagten sie, so schrieben sie. Sie bauten fest gefügte Mauern, ja. Aber sie duldeten nicht, dass diese Mauern für freie Menschen zu Gefängnissen werden konnten.«
»Und ihr wusstet davon?«
»Ich habe nur ihre Schriften gelesen, Montseigneur. Ich bin des Lesens und Schreibens kundig. Aber ich wusste natürlich nichts von dem Geheimnis dieses Turms. Denn die Steinmetze dieser Bruderschaft behielten alles für sich. Kein Verrat durfte nach draußen dringen. Sie waren verpflichtet zu schweigen.«
»Na großartig! Ein schweigender Orden!« Imbert sank auf einen Schemel. »Ketzer, Häretiker, Bruderschaften! Die Welt ist aus den Fugen, wenn die Feinde des rechten Glaubens darin ungehindert wandeln können. Wenn unsere Autorität erlahmt und sie nicht mehr auf uns hören, ist die Welt am Ende.«
Enguerrand sagte: »Ich hörte von solchen Bruderschaften. Gibt es sie nicht auch jetzt noch? Haben die Templer nicht mit diesen Steinmetzen und Maurern diese neuen, hochfahrenden Kirchen gebaut – in Cluny, in Chartres? Sagt man nicht, in diesen Bauplänen stecke ein uraltes Wissen, das sie aus dem Tempel Salomons in Jerusalem ausgegraben haben, in dem sie sieben Jahre lang wohnten? Denn bisher hat niemand so gebaut, und plötzlich sind Maurer und Steinmetzen da, die das alles können! Woher kommen sie? Was wissen sie, was wir nicht wissen?«
»Herr, ich weiß von solchen Dingen nichts.«
»Sie trauten also den fest gefügten Mauern nicht, wie? Sie besaßen irgend so ein Ideal von Freiheit? Sie machten die Mauern, die sie doch selbst errichtet hatten, durchlässig! Und wodurch erreichten sie dies? Wir haben in der Außenmauer des Turms keinen Eingang, kein einziges Zeichen gefunden, das auf eine geheime Pforte hinweist. Konnten sie zaubern?«
Einer der anwesenden Prälaten des Königs bekreuzigte sich. Imbert schnaufte nur.
Der Beschließer sagte ängstlich: »Ich kenne einen Reim, den sie aufgeschrieben haben. Er lautet: Wenn Milde sich mit Strenge paart, mit Vorschrift, Fleiß und Tat, bleibt Heiliges durch Zahl bewahrt, im heiligen Quadrat. Sie kannten geheime Zeichen und Zahlen.«
»Und die unbekannten Ketzer, die den Schatzmeister der Templer befreiten, die kannten solchen Unfug wohl auch?«
»Ja, Herr. Sie müssen es verstanden haben, die Mauern zu lesen. Es müssen heilige Leute gewesen sein…«
»Was? Du wagst es!«
»Ich meine, es müssen hochgebildete Leute gewesen sein, Herr.«
Der Generalinquisitor erhob sich schwerfällig. »Nun. Wie dem auch sei. Ob gebildet oder nicht, es soll ihre letzte Untat gewesen sein. Der Herrgott stehe uns bei, sie haben den König umgebracht! Und vielleicht geht auch der Heilige Vater auf ihr Konto! Von jetzt an werden wir sie jagen. Jeder Reiter, der abkömmlich ist, wird sie durch das Land verfolgen. Wohin sie sich auch immer verkrochen haben, wir werden sie wie das Wild im Wald von Maxence zu Tode hetzen. Denn wir sind es, die in diesem Land die Macht besitzen! Wir sind es, die den rechten Glauben besitzen! Und sie sind ein Nichts! Staub an den Hufen ihrer Reittiere! Jagt sie, schlagt sie, verkrüppelt sie, zerstückelt sie! Tötet sie alle! Vor allem tötet Henri de Roslin!«
Henri de Roslin war bereit, es mit allen Feinden aufzunehmen. Nachdem er die Folgen der Tortur überstanden hatte, betete er in der Kapelle eines Klosters um Beistand.
Der Bittgottesdienst um vier Uhr morgens war vorüber, das Morgenoffizium vom Abt des Klosters gelesen worden. Die kleine Kirche in der Nähe von Aigues-Mortes lehrte sich. Die Teilnehmer gingen langsam den steilen Uferweg hinunter zum neuen Hafen von Le Grau du Roi, stumme Männer, begleitet von ihren Frauen, von ihren Familienangehörigen. Selbst die Hunde bellten nicht mehr. Der Morgen graute, und das Schiff lag schon bereit.
Henri starrte auf die seltsamen Zeichen und Gesichter an den Wänden und auf dem Kreuzrippengewölbe der Kapelle.
Über den zwei Meter hohen Fliesen sahen ihn zwei Stierköpfe an, die für die materielle Welt, für das Erdhafte, für Kraft und Stärke, standen. Das rote achteckige Tatzenkreuz darüber begann ihn zu trösten, hier in diesem abgelegenen Winkel im Süden Frankreichs existierte es noch, es schien ihm plötzlich als Symbol des Lebens zu leuchten. Ein gutes Omen! Ebenso wie die Lebensrosetten auf den Schlusssteinen der Kreuzrippen, die mystischen Rosen des heiligen Grals.
Er glaubte den Zeichen und Zahlen aus der Verkündigung. Er glaubte, dass die Schmach des Ordens der Templer rückgängig gemacht werden konnte.
Henri wartete dennoch auf die Morgendämmerung wie ein zum Tode Verurteilter, den das Klopfen des Zeithämmerchens auf den Kirchenglocken zum Schafott ruft. Das Zeichen kam, die ersten Lichtfinger der Sonne tasteten über das Meer, Küsten, Wälle und Stadtmauern der kleinen Stadt und drangen bis in die Zimmer der Schlafenden.
Der Ort am Meer, den man dem versandenden Hafen von Aigues-Mortes vorgesetzt hatte, erwachte ungläubig wie ein Kind. Und seine Gefährten erwachten.
Jetzt ging es auf die große Reise.
Henri hätte gern vor dieser unabsehbaren Weite, die in den kommenden Tagen vor ihm lag, die Augen verschlossen, vor diesem gefährlichen Glanz von Süden her, der lockte wie eine verführerische Frau, vor diesem Abgrund hinter dem Horizont.
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