M o m war erstaunt, als ich so früh und zu Fuß nach Hause kam, aber sie nahm mir ab, dass ich mich nicht wohlfühlte.
»Bei diesem ekelhaften Winterwetter überrascht es mich, dass wir nicht alle ständig krank sind«, sagte sie.
»Ich bin eigentlich nicht krank«, meinte ich. »Ich hab mir beim Turnen einen Muskel gezerrt. Ich schätze, in ein, zwei Tagen bin ich wieder in Ordnung.«
Und ich humpelte nach oben, ging in mein Zimmer und saß im Dunkeln da.
Am Abend rief Justin an.
»Ich hab dich heute Nachmittag nicht im Unterricht gesehen«, sagte er. »Hab mich gefragt, ob mit dir alles okay ist?«
»Nein«, antwortete ich.
Es gab eine Pause. Dann sagte Justin: »Kann ich dir ir gendwie helfen?«
»Nein«, antwortete ich.
»Sehen wir uns morgen?«
»Nein«, antwortete ich. »Morgen nicht.«
»Oh. Okay. Dann sehen wir uns also am Mittwoch«, meinte Justin.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.« Oder ob.
»Na gut«, sagte er und machte wieder eine Pause.
»Möchtest du Freitag nach der Schule vorbeikommen und Illyrien spielen?«
»Nein«, antwortete ich, »diese Woche nicht.«
Justin seufzte. »Okay«, sagte er. »Man sieht sich.«
»Man sieht sich.«
Es gibt einen O r t in uns, der tiefer als tief und schlim mer als schlimm ist. Wenn man dorthin kommt, wird jede Minute zu Stunden, jede Stunde fühlt sich an wie eine Anstrengung ohne Sinn und alles um dich herum tut dir weh. An diesem O r t war ich jetzt, in meinem eigenen, ganz persönlichen Anti-Illyrien. U n d es gab niemanden, dem ich auch nur davon erzählen konnte.
Ich saß nur in meinem Zimmer, eingehüllt in meine Scham und meinen Schmerz.
Ich blieb in meinem Zimmer. Als Dad mich fragte, was nicht stimmte, sagte ich: »Nichts.« Als M o m mit mir zum Arzt wollte, sagte ich Nein. Danach ließen sie mich in R u h e . Ich glaube, sie wussten, dass bei dem, was mit mir nicht stimmte, kein Arzt helfen konnte. Niemand konnte das.
Justin rief sechsmal an. Dreimal am ersten Tag, zwei mal am zweiten und einmal am dritten. Meine Mutter nahm die Anrufe entgegen.
Ileana rief nie an.
Am Freitag sagte Dad: »Cody, entweder gehst du heute in die Schule oder ich gehe mit dir ins Kranken haus.«
»Es wäre Zeitverschwendung«, gab ich zurück.
»Was davon? Die Schule oder das Krankenhaus?«, fragte Dad.
»Beides«, antwortete ich. »Können wir nicht nach Hause zurück?«
Er kam in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett.
»Nein, Cody, sosehr ich es auch möchte - ich glaube, das können wir nicht«, sagte er.
Ich hob den Kopf. »Du meinst, du willst nach Kalifor nien zurück?«
»Es ist auch mein Zuhause.« Er seufzte. »Jeden Morgen wenn ich aufstehe und aus dem Fenster blicke und im Hof diesen widerlichen Schnee sehe, würde ich mich am liebsten umbringen.«
»Warum gehen wir dann nicht zurück?«, fragte ich.
»Wegen meiner Karriere«, sagte Dad. »Ich war in Ka lifornien in einer Sackgasse angekommen. Du weißt, dass ich bei Billings, Billings und Billings nicht glücklich war, aber du weißt nicht alles über die Gründe. Es war nicht nur deshalb, weil sie mich nicht befördern wollten.
Sie erzählten auch anderen Firmen, ich sei nicht so gut, wie ich scheine. Sie verbreiteten Lügen über mich, um alle anderen davon abzuhalten, mich abzuwerben.«
Ich konnte nicht glauben, dass Erwachsene so etwas tun würden. Dann fiel mir Horvath ein.
»Also schrieb ich an ein paar Freunde hier in Massa chusetts«, sagte er. »Du weißt ja, dass ich in diesem Bun desstaat Jura studiert habe. Ich bekam ihre Unterstützung und wurde in Massachusetts als Anwalt vor Gericht zu gelassen. Du weißt, was das bedeutet?«
»Es bedeutet, dass du die Zulassungsprüfung zum An walt nicht machen musstest«, sagte ich.
Dad nickte. »Ein Gefallen, den sie mir erwiesen. U n d Leach, Swindol und Twist haben mich so aufgenom men.« Er schnippte mit den Fingern. »Jetzt habe ich end lich die Chance, jene Art Anwalt zu sein, der ich sein wollte, als ich mich drei Jahre lang durchs Jurastudium quälte. Und es ist, was auch nicht nebensächlich ist, eine Chance, deiner Mutter und dir eine bedeutend höhere Lebensqualität zu bieten, als wir je zuvor hatten.«
»Von welcher Lebensqualität redest du?«, sagte ich.
»Du bist nicht glücklich. Ich bin nicht glücklich. Und Mom bestimmt auch nicht.«
»Ich rede von Dingen wie diesem Haus«, meinte Dad.
»Du magst es, nicht wahr?«
»Es ist okay«, gab ich zurück. »Aber jedes Mal wenn du nach draußen gehst, bist du noch immer in Massachu setts.«
»Ich weiß, dass es dir hier nicht gefällt«, sagte Dad.
»Aber denk dran: Du musst nicht für immer hierbleiben.
Wenn du in etwas mehr als drei Jahren mit der High school fertig bist, hast du die Möglichkeit, an ein College irgendwo zu Hause zu gehen. Ich nehme an, deine No ten an der Vlad werden so gut sein wie die aller anderen.
Und was deine Mutter und mich betrifft - wir haben einander und ich habe meine Arbeit, die mich, ob du es glaubst oder nicht, sehr befriedigt. In ein paar Jahren, wenn ich einige wirklich gute Fälle gewinne, kehren wir vielleicht wieder zurück. Vielleicht können wir uns so gar früher zur R u h e setzen. Es ist unglaublich, wie viel bei Leach, Swindol und Twist zu tun ist.«
Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie verschieden mein Vater und ich waren. Mir wäre ein Leben angefüllt mit Dingen nie wichtig genug, um dafür mich und meine ganze Familie unglücklich zu machen. U n d ich war mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich ein Kind hätte, herausfinden würde wollen, was mit ihm nicht stimmt, statt von mir selbst zu reden, wie er es gerade tat.
Aber Dad war eben Dad. Er war er und konnte nicht aus seiner Haut heraus. Zumindest mir gegenüber nicht. Das war schlimm. Doch es war bloß eine Katastrophe mehr auf meiner Liste.
»Also, wenn es in der Schule irgendwelche Probleme gibt, kann ich vielleicht helfen«, sagte Dad. »Möchtest du, dass ich mit Horvath rede?«
»Nö«, sagte ich und stand auf. »Ich denke, ich mach mich zum Gehen fertig.«
Also ging mein Körper am Freitag zur Schule. Er saß im Unterricht und ich glaube, er schrieb sogar mit. Er aß zu Mittag und rannte in Turnen herum. Er ignorierte Ileana und sprach ein paarmal mit Justin. Aber ich war nicht dort. Ich weiß nicht, wo ich war.
Schließlich ging ich in die Schwimmhalle. Ich war al lein dort, aber was soll's. Ich war überall allein. Ich dach te nicht darüber nach, wo die anderen Pfähler sich auf hielten.
Als ich aus dem Umkleideraum kam, riss es mir den Boden unter den Füßen weg und als Nächstes versetzte Barzini mir einen Tritt. Er hatte dabei seine Schuhe an.
Während ich versuchte aufzustehen, bemerkte ich, dass Louis Lapierre und Brian Blatt ein Stück durchsich tige Angelschnur in Knöchelhöhe hielten. Natürlich lachten sie.
»Stell dir vor, Stoker«, sagte Barzini. »Horvath hat einen anderen Gadjo gefunden! Meinen Bruder. Er fängt Montag an.«
Er trat mich in die Rippen.
»Wer braucht dich jetzt also noch?«
Als ich hochzukommen versuchte, trat er mich noch einmal.
Blatt und Lapierre packten mich an den Armen.
»Hast wohl gedacht, wir hätten es vergessen, nicht wahr, Stoker?«, sagte Barzini.
Tritt.
»Wir haben dir gesagt, dass du so gut wie tot bist.«
»Du denkst zu viel«, meinte Blatt und lachte noch mehr.
»Los, Barzini«, sagte Lapierre.
Barzini trat mich wieder. Ich keuchte. Ich war sicher, der nächste Tritt würde mir die Rippen brechen. Aber es kam kein nächster Tritt.
Stattdessen hörte ich Barzini aufjaulen und Justins Stimme, die so etwas wie »Weißt du was? Das ist aber nicht nett« sagte.
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