»Welche Bescheidenheit! Und das von einem Gadjo.«
Ich nehme an, er dürfte jenen Tag vergessen haben, an dem er mir gesagt hatte, dass dieser Ausdruck hier nie mals verwendet wurde.
Er stand auf und ging zum Feuer. Als er sich wieder zu mir umdrehte, lag sein Gesicht im Schatten. Ich glaube, das war Absicht.
»Sie haben etwas Nobles getan, Master Cody«, sagte er und hörte sich dabei an, als würde er diese Worte hassen.
»Aber unsere Traditionen sind nicht die Ihren. U n d es gibt Komplikationen, von denen Sie keine Ahnung ha ben. Niemand kann Ihnen einen Vorwurf daraus ma chen, nicht zu wissen, was Ihnen nicht gesagt wurde.
Also werde ich es Ihnen jetzt sagen und ich erwarte von Ihnen, dass Sie in Zukunft diesem Wissen gemäß han deln. Die Beziehungen zur Gemeinde in New Sodom sind sehr delikat. Es liegt in unser aller Verantwortung, Jenti ebenso wie Gadje, sie im Gleichgewicht zu hal ten, so dass jeder Einzelne davon profitiert. Wir brauchen einander. Aber wir können weder der andere werden noch dies zu tun wünschen.« Er machte eine Pause.
»Aber ich sehe schon, dass ich Sie nicht überzeuge.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich keine Ah nung habe, wovon Sie reden«, sagte ich.
»Aha«, meinte er. »Danke. Dann werde ich direkter sein. Ich möchte keine weiteren Gadjo-Heldentaten. Ich möchte keine ... Verbrüderung zwischen Ihnen und Ih ren Jenti-Klassenkameraden. Kein weiteres Niederreißen gesunder Schranken. Das gefährdet die delikaten Bezie hungen, von denen ich zuvor gesprochen habe. Begrei fen Sie das?«
»Sie möchten also, dass ich wie Blatt, Barzini und Falbo werde?«
»Junge Männer, deren Familien seit Generationen in unserer Gemeinde sind. Die wissen, wie die Dinge lau fen und wie vorteilhaft das ist. Ich würde Ihnen empfeh len, sich von ihnen leiten zu lassen«, sagte Horvath.
»Das ist der Punkt, den ich nicht kapiere«, erwiderte ich. »Ich glaube, das, worüber Sie reden, findet nicht in der Schule statt. Wie kommen Sie dazu, mir zu sagen, was ich in meiner Freizeit zu tun habe?«
»Ich bekleide in dieser Gemeinde eine Position, die hoch genug ist, um das Ganze zu sehen«, sagte Horvath.
»Ich bin mir - im Gegensatz zu Ihnen - bewusst, wie kompliziert die Netze sind, die alles verbinden. Ich möchte nicht abtun, was Sie für Mr Warrener getan ha ben. An sich war das eine noble Tat. Aber es hat Auswir kungen auf die vielen verschiedenen Fäden, die uns als Volk zusammenhalten und unsere Gemeinschaft mit un seren Nachbarn verbinden. Überdies waren Sie, was Ihre Anwesenheit auf Ms Antonescus Party anlangt, äußerst schlecht beraten.«
»Moment mal!«, sagte ich und sprang von meinem Sessel hoch wie mein Dad, wenn er vor Gericht einen Einwand erhebt. »Wer glauben Sie eigentlich, wer Sie sind mir vorzuschreiben, wohin ich gehen darf und wo hin nicht? Ich war eingeladen, um Himmels willen!«
»Sie missverstehen mich«, sagte Horvath ruhig. »Set zen Sie sich wieder. Es steht mir gewiss nicht zu, den Antonescus zu sagen, wen und wen nicht sie bei sich zu Hause empfangen dürfen —«
»Stimmt genau«, sagte ich.
»Hüte deine Zunge. Wir befinden uns jetzt nicht in deinem Gadje-Umkleideraum, Junge«, fuhr Horvath mich an. »Und ich hab dir bereits gesagt, du sollst dich setzen!«
Ich setzte mich. Dann überkreuzte ich die Beine und formte mit meinen Fingern einen kleinen Tempel, so wie Horvath es gerne machte.
»Es steht mir nicht zu, den Antonescus zu sagen, wen sie einladen dürfen«, fuhr er fort. »Aber offen gesagt hat Ihre Anwesenheit in ihrem Zuhause am Samstag andere tief gekränkt; andere, die beinahe so einflussreich sind wie sie.«
>»Andere< heißt Gregor Dimitru, nicht wahr?«
Horvath machte weiter, als hätte er mich nicht gehört, also hatte ich ins Schwarze getroffen.
»Die Einladung der Antonescus war zwar großzü gig, jedoch eine Fehleinschätzung«, sagte er, »und wenn Sie hier aufgewachsen wären, dann hätten Sie es besser gewusst und die Einladung nicht angenommen. Ich möchte Ihnen ein paar Worte von einem Ihrer wunder baren alten New-England-Dichter mitgeben. Ich hoffe, Sie haben schon einmal von Robert Frost gehört?«
Ich nickte.
»In >Mauern ausbessern« sagt er uns: >Gute Zäune ma chen gute Nachbarn««, meinte Horvath.
Ich kannte das Gedicht. Es stand in Shadwells Lehr buch.
»Ist das nicht jenes Gedicht, in dem es auch heißt: >Da ist etwas, das mag die Mauern nicht«?«, fragte ich.
Horvath starrte mich wütend an.
»Mr Horvath«, begann ich und versuchte meine Stim me davon abzuhalten, vor Zorn und Angst zu zittern.
»Als ich hierherkam, haben Sie mir gesagt, dass mir ein paar Dinge an dieser Schule am Anfang vielleicht merk würdig vorkommen würden. Sie haben gesagt, ich kön ne zu Ihnen kommen und um Erklärungen bitten. Nun, wie Sie ja ständig betonen, ich bin nicht von hier. Wie es scheint, benehme ich mich hin und wieder auf eine Art und Weise, die Ihnen fremd erscheint, und ich erkläre das wohl besser. Zuallererst: Ich freunde mich mit Leu ten an, die ich mag. Zweitens: Es passt mir nicht, mir von Ihnen sagen zu lassen, was ich zu tun und zu lassen habe, wenn ich nicht auf dem Campus bin. Und drittens: Ich habe noch ein paar Überraschungen auf Lager. Hilft Ih nen das weiter?«
»Verlassen Sie mein Büro«, knurrte Horvath.
Was ich tat.
Danach brauchte ich niemanden, der mir sagte, dass Horvath es jetzt auf mich abgesehen hatte. Justin tat es trotzdem.
Wir waren in der Schwimmhalle. Es war später Nach mittag. Seit Ileanas fünfzehntem Geburtstag hatte Justin sich dort mit mir getroffen, falls wir nicht zum Lernen zu ihm nach Hause gingen. Er kam, wenn die anderen Gadje gerade abhauten, und sah mir eine Weile beim Herumplanschen zu, als versuche er herauszukriegen, wie ich es machte. Es war komisch — er hasste Wasser ge nauso wie jeder Jenti, aber es schien auch eine gewisse Faszination auf ihn auszuüben. Das hatte ich bei keinem von den anderen bemerkt. Heute kauerte er sogar auf dem Sprungbrett. Als ich ihn entdeckte, tauchte ich unter und schwamm zu ihm hinüber. Langsam kam ich ne ben ihm hoch, um ihn nicht vollzuspritzen.
»He, Mann! Du machst besser, dass du von dem Ding da runterkommst. Sprungbretter können für Jenti ge sundheitsgefährdend sein.«
»Ich wollte nur wissen, wie es sich anfühlt, von Wasser umgeben zu sein«, meinte er.
»Und, wie fühlt es sich an?«, fragte ich ihn.
»Irgendwie trocken, wenn man es auf diese Weise macht«, sagte er. Er lächelte, dann hörte er auf. »Weißt du, dass Horvath versucht einen Gadjo-Jungen zu finden, um dich zu ersetzen?«
»Nein«, sagte ich. »Wer hat dir das erzählt?«
»Ich kenne jemanden, der nach der Schule freiwillig in seinem Büro aushilft. Sie hat gehört, wie er in der ganzen Stadt herumtelefoniert hat, um irgendeinen Gadjo zu finden, der bereit ist hierherzukommen, damit er dich rauswerfen kann.«
»Mich rauswerfen? Weshalb?«
»Er ist der Direktor. Er kann sich was aus den Fingern saugen«, sagte Justin. »Dieses Mädchen wollte jedenfalls, dass du es weißt.«
»Danke, dass du's mir ausgerichtet hast!«, schnauzte ich ihn an und trat mit dem Fuß so stark gegen die Becken wand, dass ich ihn fast vollspritzte. »Verdammter Hor vath! Jetzt hat er endlich einen Gadjo, der wirklich hier zur Schule gehen will, und dann versucht er ihn loszu werden!«
»Auf die Lehrer ist er auch wütend«, fügte Justin hinzu. »Er will, dass sie aufhören dir echte Noten zu ge ben, aber sie werden nicht klein beigeben. Was ich damit sagen will - mach dir nicht allzu viele Sorgen. Er kann dich nicht loswerden, solange er niemanden hat, der dich ersetzt, und das wird nicht einfach sein. Die alteingeses senen Familien haben Angst, ihre Kids an die Vlad zu schicken. Und sie blicken aufjeden herab, der es tut. Die meisten Gadje, die zu uns kommen, sind überall sonst rausgeflogen.«
Читать дальше