»Justin, geht's dir gut?«, fragte Ileana.
Justins Antwort war ein Grinsen und ein Zeichen, das er mit zwei Fingern machte. Er krümmte sie und machte damit eine kleine zuschnappende Abwärtsbe wegung.
Ileana hielt sich ihre Serviette vors Gesicht und lachte leise hinein. Ihre Schultern zuckten.
»Was ist so witzig?«, wollte ich wissen.
»Nichts«, sagte Justin. »Ich hab ihr nur gesagt, wie gut's mir geht.«
»Und wie gut geht es dir?«, fragte ich. »Was war das für eine Handbewegung, die du da gemacht hast? Warum sind alle aufgestanden?«
»Diese Handbewegung ist eine bei uns gebräuchliche Geste«, erwiderte Ileana und versuchte die Luft anzuhal ten, um das Lachen zu unterdrücken. »Sie bedeutet heut zutage so viel wie >okay<. Aber vor langer Zeit hat sie >Es war ein Festmahl« bedeutet.«
»Entzückend«, gab ich zurück.
»Und sie sind alle aufgestanden, weil sie an einem Tag wie diesem in meiner Gegenwart nicht sitzen bleiben können. Und ich bin aufgestanden, weil ich dich ehren wollte, ritterlicher Dichter von Illyrien.«
Unter dem Tisch ergriff sie meine Hand und drückte sie.
»Oh. Okay. He«, sagte ich. Ich spürte, wie ich rot wurde.
Sie nickte den Musikern zu und die begannen wieder zu spielen. Die Desserts wurden hereingebracht und schwungvoll vor uns abgestellt. Als die Hauben von den Tellern gehoben wurden, sah ich, dass Justin und ich je zwei bekommen hatten. Die anderen nicht.
»Esst«, sagte Ileana. »Ihr müsst euren Blutzuckerspiegel wiederherstellen. Es ist wenig genug.«
Wie immer bei Jenti-Nahrung wusste ich nicht, was ich da eigentlich aß, aber noch nie hatte ich etwas so Köstliches geschmeckt.
Während ich aß, flüsterte Ileana: »Ich habe davon ge hört, was du zu Erzsebet und Marie gesagt hast. Das war ziemlich witzig, aber sehr unhöflich. Ich wette, es hat ih nen noch nie in ihrem Leben jemand ins Gesicht gesagt, dass sie Vampire sind.«
Dann sagte Gregor etwas zu ihr und sie wandte sich ihm zu, um zu antworten.
»Kennst du Marie und Erzsebet?«, fragte ich Justin.
»Himmel!«
»Nein, aber ich wette, ich kenne die Sorte, von der du da sprichst«, antwortete er. »Echter alter transsylvanischer Adel, nicht wahr?«
»Wir sind echte Transsylvanier«, sagte ich und ver suchte ihren Akzent nachzumachen. »Sie haben mir das Gefühl gegeben, Ungeziefer zu sein.«
Justin lachte.
»Diese Sorte hält auch von amerikanischen Jenti nicht viel«, meinte er. »Mach dir wegen denen keine Sorgen.
Ich glaube, sie sind ziemlich eifersüchtig auf das, was wir hier haben.«
»Und ich kann verstehen, warum«, sagte ich und blickte mich im Saal um. »Das hier muss ein Vermögen wert sein.«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Justin. »Die meis ten dieser Leute haben einen Haufen Geld. Ich dachte an die Freiheit.«
»Freiheit gibt's auch in Europa.«
»Nicht so wie bei uns hier«, erwiderte er. »Ich spreche von der Freiheit, zu sein, was du willst. Mit deinem Le ben zu machen, was du willst. Vielleicht denkst du, dass die Jenti in New Sodom im Vergleich zu den Gadje nicht viel davon haben. Vielleicht stimmt das auch. Aber wenn man zum Vergleich die alten Traditionen hernimmt, ha ben wir es ganz schön weit gebracht. Und in Europa sind sie zurückgeblieben.«
»Marie hat gesagt, in Europa würde Ileana bereits wis sen, wer ihr Ehemann wird«, sagte ich.
»Sie würde weit mehr als das wissen«, erwiderte Justin.
»Aber sie wäre auch in Europa ein besonderer Fall.«
»Zum Kuckuck, sie wäre überall ein besonderer Fall«, gab ich zurück.
»Ja, aber du weißt schon, was ich meine«, sagte Justin.
Ich wollte ihn gerade fragen, was er eigentlich meinte, aber Ileana läutete mit einer kleinen Kristallglocke, die vor ihr stand, und der ganze R a u m war von diesem zar ten Klang erfüllt.
Die Musik verstummte und jeder sah zu ihr hin.
Sie erhob sich.
»Meine Freunde, verzeiht mir, wenn ich Englisch spreche und nicht in der Zunge unserer Vorfahren«, be gann sie. »Aber es sind heute einige unter uns, die unsere Muttersprache nicht beherrschen, und ich möchte sie von dem, was ich zu sagen habe, nicht ausschließen. Und ich bin auch Amerikanerin. Das ist die Sprache, die ich jeden Tag verwende. U n d ich liebe die Schönheit des Englischen sehr.«
An den Tischen gab es einen kleinen Aufruhr. Es klang wie das Rascheln von Lederschwingen.
Ileana fuhr fort: »Ich möchte Ihnen allen dafür dan ken, dass Sie mich an diesem Tag mit Ihrer Anwesenheit ehren. Der fünfzehnte Geburtstag eines Mädchens ist bei uns einer der wichtigsten Tage in seinem Leben. Ihn mit so vielen teilen zu können, die meiner Familie und mir so viel bedeuten, ist ein einzigartiges Erlebnis.«
Sie wandte sich an ihren Vater, der am Kopfende des ersten Tisches zu ihrer Rechten saß.
»Als Erstes möchte ich meinem Vater danken, der meine Mutter so sehr liebte und mit ihr zusammenkam, um mir das Leben zu schenken. Und ich danke meiner Mutter, die mich von der Dunkelheit ins Licht brachte.«
Sie verneigte sich leicht vor ihrer Mutter, die lächelte.
»Ich möchte all den Onkeln und Tanten und Cousins, Cousinen und Freunden aus dem Ausland danken, die mich den alten Traditionen nähergebracht und ihre Süße gelehrt haben. Aber ich möchte auch jenen, mit denen ich mich angefreundet habe und die anders sind als wir, dafür danken, dass sie mich die Süße des Neuen gelehrt haben.«
Wieder war das Rascheln zu vernehmen. Ich glaube nicht, dass ihnen gefiel, was sie da zu hören bekamen.
»Wir sind ein großartiges Volk«, sagte Ileana. »Nichts hat uns je besiegt oder zerstört. Wir sind so stark wie die Steine in unserer Mutter Erde. U n d weil wir das sind, können wir es uns leisten, weniger Angst zu haben. Die Welt hat sich verändert und verändert sich noch. Ich glaube, wir sind zu einer neuen Art Größe aufgerufen, einer Zeit, wo Jenti und Gadje einander nicht mehr furchten werden.«
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass Gregor an dieser Stelle knurrte.
Ileana sagte nur noch eins. »Ich glaube, diese Zeit ist jetzt gekommen.«
Sie läutete wieder mit der kleinen Glocke und setzte sich. Die Musik begann wieder zu spielen.
Leise, so dass nur ich ihn hören konnte, pfiff Justin die ersten N o t e n der amerikanischen Nationalhymne The Star-Spangled Banner und fügte »O Mann!« hinzu, als könnte er gar nicht glauben, was er eben gehört hatte.
»Was?«, flüsterte ich.
»Später«, war seine Antwort.
»Jetzt«, sagte ich, aber in dem M o m e n t wurden die Geschenke hereingebracht.
Es waren Hunderte, aufgehäuft auf Karren von der Größe eines Pick-ups.
Sie wurden eins nach dem anderen von Szasz ausge packt, während Ignatz die Karten vorlas, auf denen stand, von wem welches Geschenk war.
Es war die Art von Geschenken, wie jedes Mädchen sie zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekommt. Antiker Schmuck, Skulpturen, Gemälde, ein paar staatliche Land-Zuteilungen, die Übertragungsurkunde für eine Diaman tenmine in Südafrika - so das übliche Zeug eben .
Immer wenn ein Geschenk verkündet wurde, applau dierten die Jenti.
Sie klatschten unisono, fingen langsam an und steiger ten sich zu einer derartigen Geschwindigkeit, dass sie den Takt nicht mehr halten konnten und der Rhythmus sich in einer Welle von Begeisterung auflöste.
Nach jedem Geschenk sagte Ileana etwas zu dem Überbringer.
All das nahm eine Weile in Anspruch, was mir aus reichend Zeit gab, mein Geschenk mit den anderen zu vergleichen. Ich fühlte, wie ich innerlich immer kleiner wurde. Und immer verwirrter. Wieso verehrten diese Leute Ileana so? Was war mir entgangen?
Etwa in der Mitte dieser Veranstaltung wickelte Szasz das Geschenk von Cody Elliot aus. Ignatz hielt es in die Höhe und rief: »Das Geschenk von Master Cody Elliot.
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