»Ich möchte schon«, sagte er zögernd. »Ich fürchte nur, daß… nun, ich bin nicht unbedingt besonders bibelfest.« Johannes seufzte. »Warum glaubt eigentlich alle Welt, daß wir nur über die Bibel und den Sinn des Lebens reden können?« fragte er. »Das muß wohl der Fluch meiner Kutte sein.« »Tragen Sie denn eine?« fragte Brenner.
»Nein. Bei uns gibt es das nicht. Sehen …« Johannes stockte, schwieg für eine oder zwei Sekunden und fuhr dann in deutlich betroffenem Tonfall fort: »Verzeihung. Ich hatte für einen Moment vergessen, daß … Sie nichts sehen.«
»Das macht nichts«, log Brenner. Es klang nicht besonders überzeugend, und er gab sich auch keine Mühe, so zu tun. »Man gewöhnt sich dran, wissen Sie? Es ist ja nicht für lange. Ich kann heute schon besser sehen als gestern. Und gestern etwas besser als vorgestern.« Das klang noch weniger überzeugend. Johannes sagte nichts dazu, aber irgend etwas an seiner Art zu schweigen irritierte Brenner. Nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »In ein paarTagen ist alles wieder in Ordnung. Wenigstens … hoffe ich das.«
»Das klingt überhaupt nicht überzeugt«, sagte Johannes geradeheraus. Er hatte eine recht eigenwillige Art, seinen Job zu tun, fand Brenner. Aber zugleich auch eine, die ihm gefiel. Bisher hatte er sich hartnäckig geweigert, mit einem Geistlichen zu sprechen, obwohl das das erste gewesen war, was sie ihm angeboten hatten, kaum daß er wieder richtig zu sich gekommen war. Schließlich war das hier ein kirchlich verwaltetes Krankenhaus. Das war das zweite gewesen, was sie ihm gesagt hatten.
»Sind Sie hier, um meine Depressionen zu pflegen oder um mich aufzuheitern?« fragte Brenner. Er lächelte. »Nein, keine Sorge – das wird schon wieder. Es geht eben nur … langsam. Man ist ziemlich hilflos, wenn man nichts sehen kann. Und man kommt auf die seltsamsten Gedanken.«
»Seltsame Gedanken?«
»Nichts Bestimmtes«, antwortete Brenner ausweichend. Es tat ihm bereits leid, daß er überhaupt von demThema angefangen hatte. »Der ganze sinnlose Kram eben, der einem durch den Kopf geht, wenn man ans Bett gefesselt daliegt und vor Langeweile fast stirbt.«
»Bekommen Sie keinen Besuch?«
»Wer sollte mich schon besuchen?« antwortete Brenner. Es hatte nicht wehleidig klingen sollen, aber er hörte selbst, daß genau das der Fall war.
»Keine Verwandten, Freunde … Kollegen?«
»Doch«, antwortete er, hastig und eindeutig im Tonfall einer Verteidigung. »Aber ich wollte nicht, daß man sie benachrichtigt. «
»Warum nicht?«
»Meine Mutter ist fast siebzig und seit zehn Jahren herzkrank«, antwortete Brenner. »Ich wollte nicht, daß sie sich unnötig aufregt. Und mein Vater ist schon lange tot.«
Johannes hatte seinen Tonfall wohl richtig gedeutet und ließ die Frage nach Freunden und Kollegen diskret fallen. Für einige Augenblicke wurde es still; auf eine sehr ungute, bedrohliche Art. Die Dunkelheit schien näher an ihn heranzukriechen, und Brenner fühlte sich sehr allein. Johannes hatte es nicht gewußt und ganz sicher nicht beabsichtigt, aber seine Frage hatte eine Tür in Brenners Gedächtnis geöffnet, die er bisher sorgsam verschlossen gehalten hatte. Er wollte nicht an seine Familie denken, auch nicht an Freunde, die er praktisch nicht hatte, und erst recht nicht an seine Kollegen, mit denen er – wenn überhaupt – in einer Art zähneknirschendem Burgfrieden lebte. Natürlich hatte er daran gedacht – ebenso wie an das Sterben, seinen Unfall, das Feuer … Drei Tage waren eine lange Zeit, wenn man nichts anderes zu tun hatte, als dazuliegen und zu denken.
»Möchten Sie darüber reden?« fragte Johannes nach einer Weile.
»Über meine Familie?«
Er konnte das Kopfschütteln des Paters hören. »Ihren Unfall. Manchmal erleichtert es, über die Dinge zu reden.«
Er konnte also doch nicht aus seiner Haut, dachte Brenner. Einmal Seelsorger, immer Seelsorger, selbst wenn man nur mal eben auf dem Nachhauseweg bei einem Patienten vorbeisah, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten. Aus irgendeinem Grund wirkte dieser Gedanke jedoch beruhigend auf ihn.
»Ich kann mich kaum erinnern«, sagte er. »Es muß ziemlich schlimm gewesen sein, aber … « Er suchte einen Moment nach Worten und rettete sich schließlich in ein Achselzucken. »lm
Grunde weiß ich nicht mehr darüber als das, was mir die Polizei erzählt hat.«
Das war eindeutig nicht die Wahrheit. Er erinnerte sich an eine Menge, aber er konnte nicht genau sagen, was davon wirklich geschehen war und was nicht. Einiges davon war so bizarr, daß es nur Einbildung sein konnte. Es war mit seinem Gedächtnis wie mit seinem Augenlicht – sie hatten ihm gesagt, daß es zurückkehren würde, aber es war ein langsamer Prozeß, voller Qual und Ungewißheit. Und es gab noch einen Unterschied: Er sehnte es nicht annähernd so sehr zurück wie sein Augenlicht. Vielleicht überhaupt nicht.
»Es heißt, Sie hätten großes Glück gehabt.« Johannes schien zumindest eine menschliche Schwäche zu haben – er war neugierig.
Brenner lächelte beinahe gegen seinen Willen. »Fünfunddreißig Stufen kopfüber eine Steintreppe hinunterstürzen und sich dabei nicht einen einzigen Knochen zu brechen ist ziemliches Glück, denke ich«, sagte er. »Jeder Stuntman wäre neidisch darauf – jedenfalls hat man es mir so erzählt.«
»Sie erinnern sich nicht?«
Brenner schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und fügte in bewußt übertrieben gequältem Ton hinzu: »Aber es muß wohl was dran sein. Ich fühle jede einzelne Stufe, auf die ich aufgeschlagen bin. Aber es müssen mehr gewesen sein als fünfunddreißig … so an die viertausend, schätze ich, und ein paar habe ich wohl doppelt genommen.«
Johannes lachte – aber es klang eher pflichtschuldig als wirklich amüsiert, und als er weitersprach, hörte Brenner den gespannten Unterton in seiner Stimme zu deutlich, um ihn sich nur einzubilden. »Was ist eigentlich passiert? Ich meine: nicht nur Ihnen, sondern überhaupt? Ich habe etwas von einem Brand gehört, und einer Explosion … «
Er wollte antworten, aber dann starrte er statt dessen für endlose Sekunden schweigend dorthin, wo Johannes' Gestalt als flackernder Schemen durch den grauen Nebel trieb, und
ließ seine Frage noch drei-oder viermal hinter seiner Stirn nachhallen, aber er kam zu keiner befriedigenden Antwort. Ja, was ist eigentlich passiert?
Tatsache war: er wußte es nicht. Nicht wirklich. In seinem Kopf waren Bilder, Gefühle, Lärm … ein sinnloses Durcheinander, als hätte jemand nicht nur ein, sondern gleich fünf oder auch zehn verschiedene Puzzlespiele genommen und die Teile wild durcheinandergemischt. Und das war nicht einmal das Schlimmste. Wenn er bisher an seinen Unfall zurückgedacht hatte – was bislang nicht der Fall gewesen war,aber manchmal, etwa wenn er mit einem der Ärzte sprach, eben doch – , so hatte er es mit einer Art heiterer Gelassenheit getan; etwas, was ihn nicht wirklich interessierte, zumindest nicht wirklich berührt hatte. Jetzt fragte er sich zum erstenmal, ob er sich tatsächlich nicht erinnern konnte – oder vielleicht gar nicht wollte.
Die Vorstellung erschreckte ihn. Er war kein Psychologe, aber wie jedermann hatte er genug einschlägige Filme gesehen und Bücher gelesen, um zu wissen, was der Begriff »Verdrängung« bedeutete. War das, was er erlebt hatte, vielleicht so schlimm, daß er sich mit gutem Grund nicht daran erinnerte, oder
»Habe ich etwas Falsches gefragt?« Johannes' Stimme drang wie eine Rettungsleine in seine Gedanken. »Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Das haben Sie nicht«, versicherte Brenner. Das tue ich schon ganz allein. »Aber ich fürchte, ich erinnere mich nicht. Alles ist … sehr verwirrend.«
»Partielle Amnesie.« Er konnte hören, wie Johannes' Jacke raschelte, als er nickte. Das Geräusch klang teuer. Vielleicht nach Seide. »Das ist ganz und gar nichts Ungewöhnliches ineinem solchen Fall. Überhaupt kein Grund zum Erschrecken. Meistens kehrt das Gedächtnis nach ein paarTagen von selbst zurück.«
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