So wie mein Augenlicht? »Meistens?«
»Fast immer«, verbesserte sich Johannes hastig. Nach ein paar Sekunden tat er es noch einmal und sagte: »Immer.«
»Vorsicht, Herr Pfarrer«, sagte Brenner spöttisch. »Da gibt es doch irgendein Gebot, das das Lügen verbietet, oder?« Johannes lachte. Diesmal klang es echt.
»Es muß Pater heißen«, sagte er amüsiert. »Und dieses Gebot gibt es tatsächlich, ja … « Er seufzte. »Langsam glaube ich, daß es vielleicht keine so gute Idee war, hierherzukommen. Ich scheine mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Soll ich wieder gehen?«
»Nein«, sagte Brenner rasch. »Ich bin ein bißchen nervös. Es ist … nicht besonders angenehm, so daliegen zu müssen und nicht einmal etwas zu sehen. Sie haben nicht zufällig irgendwo ein klitzekleinesTransistorradio herumstehen?«
»Hier nicht. Aber ich werde zu Hause nachsehen. Wenn ich etwas Passendes finde, bringe ich es Ihnen morgen mit. Sie halten Sie hier ziemlich kurz, was Informationen angeht, wie?«
»Ja. Als Gegenleistung halten sie mir die Journalisten vom Leib.«
»Seien Sie froh«, sagte Johannes überzeugt. »Es hat schon nachgelassen, aber in den beiden erstenTagen war es eine richtige Belagerung. Die Kerle haben sogar in den Bäumen gehockt und versucht, mit Teleobjektiven Aufnahmen von Ihrem Zimmer zu machen. Deshalb hat man wohl auch das Fenster verdunkelt. «
Das war eine neue Information, die Brenner eigentlich hätte erleichtern sollen – statt dessen ärgerte sie ihn. Kein Wunder, daß er das Fenster auch tagsüber nicht sehen konnte. Es hätte ihm eine Menge Grübeleien erspart, hätte er gewußt, warum das Fenster dunkel blieb.
»Wenn das so ist, dann können Sie mir wahrscheinlich viel eher erzählen, was passiert ist«, sagte er.
»Kaum«, antwortete Johannes in bedauerndem Ton. »Die Zeitungen überbieten sich in den wildesten Spekulationen, aber niemand weiß wirklich mehr, als daß es eine Explosion gegeben hat und anschließend ein gewaltiges Feuer. Die Polizei hat das ganze Gelände abgesperrt und läßt niemanden auch nur in die Nähe.«
Eine blitzartige Vision: Ein schwarzer Schemen, der auf einem Feuerstrahl ritt und heulend auf ihn zujagte. Das Bild erlosch, ehe er erkennen konnte, was da auf ihn zukam, und es war zu bizarr, um wirklich zu sein. Ein Stück aus einem Puzzle, das nicht zu ihm gehörte. Er fragte sich, ob er das wirkliche Bild unter all diesen falschen Teilen überhaupt jemals wiederfinden würde.
»Es war… eine Art Kloster, nicht wahr?«
Brenner hob die Schultern. »Sollten Sie nicht der Spezialist für Klöster und Kirchen sein?«
»Ja«, antwortete Johannes. »Sie sind Versicherungsagent, nicht?«
»Und?«
»Kennen Sie alle Agenturen in der Stadt? Oder sogar im ganzen Land?«
»Touche«, sagte Brenner. >ja. Ich glaube, es war … eine Art Kloster. Wir sind mit dem Wagen liegengeblieben und wollten … telefonieren.«
»Wir?«
»Dieses Mädchen und ich.« Was für ein Mädchen? »Was für ein Mädchen?«
Eine neue Vision, noch kürzer als die erste, aber ungleich deutlicher: ein schmales, von dunklem Haar eingerahmtes Gesicht mit Augen, in denen ein tiefverwurzeltes Mißtrauen gegen das Leben war; vielleicht die Spuren einer alten Verletzung, die niemals ganz vernarben würde. Er war sicher, daß dies einTeil des richtigen Bildes war, vielleicht das erste überhaupt bisher. Er versuchte es festzuhalten, aber es entglitt ihm.
»Eine … Anhalterin?« antwortete er zögernd. »Ich habe sie … mitgenommen …, glaube ich.«
Es war nicht nur bizarr; das Phänomen begann in ihm so etwas wie fast wissenschaftliche Neugier zu wecken: Die Erinnerungen kehrten im gleichen Moment zurück, in dem er die Worte aussprach, und es war genau andersherum, als es sein sollte: die Worte weckten Bilder in ihm, nicht umgekehrt.
Plötzlich war er sehr aufgeregt. Vielleicht hatte er ganz aus Versehen endlich die richtige Tür gefunden und mußte den Weg nur konsequent weitergehen, um sich an alles zu erinnern. »Wissen Sie, wie sie hieß?«
»Nein«, antwortete Brenner. »Wir sind nur ein Stück zusammen gefahren. Danach … ja, das Benzin ist mir ausgegangen. Wir mußten zu Fuß weitergehen, aber es war sehr kalt, und als wir den Weg fanden … «
»Den Weg zum Kloster?«
Der Zauber erlosch. Er sah die verschneite Straße und ihre beiden nebeneinanderliegenden Spuren, aber danach nichts mehr. Wo der Weg in den Wald hineinführte, war nichts mehr, nur Dunkelheit. Die Worte hatten aufgehört, Bilder zu gebären. Seine Phantasie spielte ihm sogar einen besonders perversen Streich: das schwarze Stück fehlender Realität, das den Beginn des Waldweges verdeckte, hatte tatsächlich die Umrisse eines Puzzleteiles …
»Möglich«, sagte er. »Ich … weiß es nicht genau.«
»Und dieses Mädchen?« Johannes klang eindeutig mehr als nur interessiert. »Wissen Sie ihren Vornamen? Oder wie sie ausgesehen hat?«
»Ich – «
DieTür wurde aufgerissen, und eine sehr laute, sehr zornige Stimme fragte: »Was, zum Teufel, ist denn hier los?! «
Etwas scharrte – die Hartgummistopfen an den Beinen von Johannes' Stuhl, als er mit einem erschrockenen Ruck hochsprang – , dann waren energische Schritte zu hören und dann wieder die scharfe Stimme, die Brenner jetzt als die eines der Ärzte identifizierte.
»Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?« »Ich – «
»Verlassen Sie dieses Zimmer! Auf der Stelle! «
»Bitte, Herr Doktor«, sagte Johannes besänftigend. »Es gibt gar keinen Grund, sich aufzuregen. Ich bin nur hier, um – « Brenner konnte hören, wie der Arzt Johannes mit einer energischen Bewegung das Wort abschnitt. Der weiße Arztkittel raschelte anders als das Jackett des Geistlichen.
»Warum Sie hier sind, das werden wir gleich klären – draußen und in Gegenwart der Polizei. Und jetzt verlassen Sie dieses Zimmer. Der Patient braucht absolute Ruhe. Was Sie hier tun, ist nicht nur Hausfriedensbruch, sondern auch unverantwortlich!«
»Aber ich bitte Sie! « begann Johannes, kam aber auch jetzt nicht dazu, weiterzureden, denn er wurde erneut unterbrochen: »Nein, ich bitte Sie zum letztenmal, dieses Zimmer zu verlassen. Wenn Sie nicht unverzüglich gehen, rufe ich die Polizei!« Brenner war dem hitzigen Gespräch bisher schweigend, aber mit wachsender Verwirrung gefolgt, aber nun richtete er sich auf, soweit er es konnte, und wandte sich an den Arzt. »Was ist denn los? Ich habe zwar nicht um geistlichen Beistand gebeten, aber das ist doch kein Grund – «
»Geistlicher Beistand?« Der Arzt lachte humorlos. »Hat er sich etwa als Seelsorger vorgestellt?«
»Ist er das denn nicht?« fragte Brenner verwirrt. Er sah nach rechts, aber Johannes' Schatten war verschwunden. Seine Welt war klein geworden. Ein einziger Schritt reichte, um vom Schemen zur körperlosen Stimme zu werden. »Ich dachte, er wäre der Krankenhauspfarrer. «
»Jedenfalls nicht bei uns«, antwortete der Arzt. Brenner konnte hören, wie er sich wieder zu Johannes herumdrehte. »Sie sind ja immer noch da! «
»Bitte, Herr Doktor! « sagte Johannes. »Ich verstehe ja Ihre Erregung, aber ich muß unbedingt – «
»Schwester Annegret, rufen Sie die Polizei«, sagte der Arzt kühl.
Johannes atmete hörbar ein. »Das ist nicht nötig«, sagte er, nun in resignierendem Tonfall. »Ich gehe. Bitte entschuldigen Sie mein Eindringen. Und – Herr Brenner, bitte versuchen Sie, sich an das Mädchen zu erinnern. Es ist sehr wichtig.«
Brenner hörte, wie er um das Bett herumging und mit schnellen Schritten das Zimmer verließ. Eine Frauenstimme, die er bisher noch nicht gehört hatte, fragte: »Soll ich die Polizei rufen, Herr Professor?«
»Nein«, antwortete der Arzt nach kurzem Überlegen. Jetzt erinnerte sich Brenner auch an den Namen: Schneider. Professor Schneider. »Der kommt nicht wieder. Das ganze Aufheben lohnt sich sowieso nicht.«
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