»Eine gute Idee«, antwortete die Schwester. »In knapp drei Stunden kommt die Frühschicht, und dann werden Sie gnadenlos geweckt.«
Er hörte, wie sie irgend etwas an den Maschinen neben ihm tat, dann fuhr sie fort: »Das sieht ja alles schon sehr gut aus. Sie waren ein braver Patient und haben alle ihre Medikamente genommen?«
»Habe ich eine Wahl?« Brenner hob die rechte Hand, so weit er konnte. Sehr weit war es nicht. In seinem rechten Handrücken steckte eine Nadel, durch die er nicht nur intravenös ernährt, sondern auch mit dem größtenTeil seiner Medikamente versorgt wurde. Und die außerdem noch erbärmlich weh tat.
»Nein«, antwortete die Schwester. Sie klang jetzt eindeutig fröhlich. »Und das ist auch gut so. Wenn Sie irgendwas brauchen, klingeln Sie.«
Ihre Schritte entfernten sich, und einen Moment darauf hörte er das Geräusch der Tür. Er war allein – das hieß, außer ihm war niemand im Zimmer. Vermutlich wurde er in jeder Sekunde von mindestens einem Augenpaar beobachtet. Brenner war sich ziemlich sicher, daß die Schwester keineswegs zufällig genau in dem Moment hereingekommen war, als er versucht hatte, von seinem Bett aufzustehen. Wenn nicht sie selbst, so überwachten ihn doch die zahlreichen Geräte, an die er angeschlossen war, so gründlich, wie es nur ging. Die Ärzte stritten es ab, vermutlich um ihn zu beruhigen, aber Brenner war vom ersten Moment an klargewesen, daß dies kein normales Krankenzimmer war. Er befand sich auf einer Intensivstation, möglicherweise sogar in einer Spezialklinik.
Er fragte sich nur, warum.
Abgesehen von seinen Augen fehlte ihm nicht viel. Gewiß, jeder einzelne Muskel in seinem Körper tat weh, und er hatte seit seinem ersten Erwachen in diesem Zimmer so viele Spritzen bekommen, daß er sich wie ein Nadelkissen fühlte, aber er war eindeutig nicht schwer verletzt. Jedenfalls nicht schwer genug, um diese Behandlung zu rechtfertigen. Vielleicht hatten sie ihn doch belogen, was sein Sehvermögen anging. Was, wenn es nicht zurückkehrte, sondern im Gegenteil ganz erlöschen würde – oder er für den Rest seines Lebens in diesem grauen Universum gefangen war?
Brenner spürte die Gefahr, die in diesem Gedankengang lauerte, und brach ihn mit einer bewußten Anstrengung ab. Er war in den letzten Tagen mehrmals am Rande der Panik gewesen – und ein– oder zweimal ganz eindeutig jenseits dieses Randes – , aber er hatte begriffen, daß Panik zu nichts führte. Sie war nicht konstruktiv, und sie erfüllte nicht einmal die Funktion eines reinigenden Gewitters, denn er fühlte sich hinterher nicht besser, sondern im Gegenteil hundeelend – nicht gereinigt, sondern ausgebrannt.
Brenner hob die linke, nicht bandagierte Hand und tastete ungeschickt nach dem Radiohörer – genauer gesagt, dem Ding, das sich Radiohörer schimpfte. Die kleine, an einem Gummischlauch befestigte Muschel hatte die Klangqualität eines schlechten Ohrsteckers, wie ihn Stenotypistinnen zu benutzen pflegten, und die Qualität des Programms, das er damit empfing, paßte dazu. Der Schalter an der Wand – den er nicht mit der Hand erreichen konnte, ohne sich halb den Arm auszukugeln – hatte zwar sechs Stellungen, aber auf vieren davon empfing er nur statisches Rauschen, auf den beiden anderen das krankenhauseigene Musikprogramm, das vom Band kam und sechsmal am Tag wiederholt wurde: seichte Popmusik auf dem einen und ebenso seichte Klassik auf dem anderen Kanal. Er kannte die Programmfolge mittlerweile auswendig. Trotzdem war es immer noch besser als gar nichts.
Umständlich nestelte er den Hörer in sein Ohr und verzog dasGesicht, als er die Melodie identifizierte. Zu allem Überfluß hatte er auch noch den Klassikkanal gewählt. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: er konnte die Schwester rufen oder mit dem linken Arm in einem beinahe unmöglichen Winkel nach dem Schalter an der Wand greifen, womit er wahrscheinlich ebenfalls die Schwester wieder auf den Plan gerufen hätte. Die dritte Alternative war, für die nächsten zwanzig Minuten eine miserabel gespielte Klaviersonate von Debussy oder Gottweißwem von einem seit Monaten ununterbrochen heruntergespulten Band zu hören.
Er hob den Arm und kam genau so weit, wie er befürchtet hatte: Seine Finger tasteten an dem dürren Plastikschlauch entlang, bis er den Arm so weit verdreht hatte, wie er konnte, und seine Fingerspitzen berührten soeben den Kopf.
»Warten Sie – ich helfe Ihnen.«
Brenner fuhr so erschrocken zusammen, daß das Krankenhausbett spürbar zitterte. »Wer ist da?« Er hatte nicht gehört, daß jemand hereingekommen war; weder das Geräusch derTür noch Schritte. In den grauen Nebelschwaden ringsum bewegten sich Schemen, aber er konnte nicht sagen, was davon real war und was nicht.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Möchten Sie die Musik hören?«
Brenner riß den Ohrhörer mit einer hastigen Bewegung herunter und setzte sich nun doch auf. Mindestens zwei seiner elektronischen Schutzengel begannen protestierend zu piepsen, aber darauf achtete er nicht. »Wer sind Sie?« fragte er noch einmal. »Und wo, zumTeufel, kommen Sie her?«
»Also gerade dorther mit Sicherheit nicht.« Ein leises Lachen, das es ihm endlich gestattete, wenigstens die Richtung zu identifizieren, aus der die Stimme kam. »Bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken. Die Schwester sagte mir, daß Sie wach sind und vielleicht ganz froh über ein bißchen Gesellschaft wären. Mein Name ist Johannes. Pater Johannes, von der Gesellschaft Jesu, aber das muß Sie nicht beeindrucken. Die meisten nennen mich einfach nur Johannes.«
»Pater?« Brenner legte den Kopf auf die Seite und blickte angestrengt in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nach einigen Momenten sah er tatsächlich einen Schatten – den ersten wirklichen Schatten, seit er hier aufgewacht war. Alle anderen Schemen, die zu ihm sprachen, waren hell gewesen. Dieser war dunkel. »Sind Sie der Gefängnispfarrer hier?«
Johannes lachte – nicht sehr laut, aber es klang herzhaft und sehr warm. Seine Stimme war älter als die der Schwester, aber nicht älter als Brenners. »So ungefähr«, sagte er. »Aber lassen Sie sich davon nicht irritieren. Außerdem bin ich nicht im Dienst, «
»Das ist gut«, sagte Brenner. »Ich brauche nämlich keinen Beichtvater. Ich habe noch nicht vor zu sterben.«
Diesmal lachte Johannes nicht. Selbst Brenner war ein wenig erstaunt über den leisen, scharfen Unterton in seiner Stimme. Seine Verwirrung war fort, aber dafür machte sich ein Gefühl von Feindseligkeit in ihm breit, das er sich gar nicht erklären konnte.
»Ich sagte doch, ich bin nicht im Dienst«, sagte Johannes nach einer Weile. »Ich war schon auf dem Weg nach Hause, als ich die Nachtschwester getroffen habe. Sie hielt es für eine gute Idee, wenn ich noch einmal bei Ihnen vorbeischaue. Aber ich gehe wieder, wenn Sie nicht reden wollen.«
»Nein«, antwortete Brenner hastig. »Bitte entschuldigen Sie, Pater. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen.«
Die Schritte umkreisten das Bett, und er hörte, wie ein Stuhl hochgehoben und scharrend herangezogen wurde. »Also gut«, sagte Johannes. »Wenn wir damit fertig sind, uns gegenseitig zu entschuldigen, könnten wir uns ein bißchen unterhalten. Wenn Sie wollen, heißt das.«
Eigentlich wollte Brenner das nicht. Er konnte es sich nicht erklären, aber er empfand noch immer ein grundloses, aber sehr heftiges Mißtrauen gegen die körperlose Stimme des Geistlichen. Warum?
Das Gefühl war so stark, daß es sein schlechtes Gewissen weckte – schließlich hatte der Mann ihm nichts getan, sondern war im Gegenteil sehr freundlich zu ihm gewesen. Er opferte immerhin einen Teil seiner Freizeit, was für jemanden mit seinem Beruf vielleicht nicht selbstverständlich war, auch wenn alle Welt es erwarten mochte. Brenner glaubte nicht, daß Krankenhausgeistliche über sehr viel Freizeit verfügten.
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