Er kam niemals dazu, seine Frage zu stellen oder überhaupt irgend etwas zu tun, geschweige denn, zu begreifen, was geschah. Alles passierte in einer einzigen Sekunde, vielleicht weniger, aber er sah, hörte, fühlte und roch plötzlich mit geradezu phantastischer Schärfe, jener Klarheit, die nur Momente absoluter Todesgewißheit hervorzubringen vermochte:
Er sah Astrid, die mit weit ausgebreiteten Armen vor ihm stand, verbrannt, auf schreckliche Weise verletzt und doch
ohne eine Spur von Schmerz oder Furcht in den Zügen, aber er sah auch den Helikopter, der über und hinter ihr über dem Dach des Klosters erschien, wie ein brennender Stern, der vom Himmel taumelte, kippte –
Und explodierte.
Das letzte, was Thomas Brenner wahrnahm, war eine lodernde Feuerwalze, die sich brüllend vom Himmel herabsenkte und die Gestalt des Mädchens in einen Mantel aus Flammen hüllte. Dann ergriff ihn die Druckwelle und schleuderte ihn rücklings dieTreppe hinunter.
Hinterher wußte Salid selbst nicht genau, wie er das Ufer erreicht hatte. Vielleicht war es purer Zufall, daß ihn seine instinktiven Schwimmbewegungen in die richtige Richtung gebracht hatten, vielleicht auch das letzte der zahllosen Wunder, denen er seine Rettung bisher verdankte. Irgendwann gruben sich seine Hände plötzlich in warmen Schlamm, undseine Überlebensinstinkte ließen seine Finger sich krümmen und zupacken. Mit letzter Kraft schleppte er sich das flache Ufer hinauf und blieb liegen. Er hatte nicht mehr die Energie, ganz aus dem Fluß zu kriechen. Vom Bauchnabel abwärts lagen sein Körper und seine Beine noch im Wasser. Aber er war zumindest nicht mehr in Gefahr zu ertrinken.
Salids verbissener Kampf gegen die Bewußtlosigkeit und damit vielleicht den Tod dauerte lange, und er hätte ihn wahrscheinlich verloren, wäre nicht ein Verbündeter des Todes plötzlich und unfreiwillig zu seinem Helfer geworden. Das Wasser wurde immer kälter. Seine Beine begannen zu prickeln, und er konnte spüren, wie sein Körper von den Füßen aufwärts allmählich taub wurde. In dem Zustand halber Bewußtlosigkeit, in dem er am Ufer lag, sah er sic h plötzlich selbst, wie sie ihn finden würden, wenn sie nachsehen kamen, was hier passiert war: tot, von den Hüften abwärts in einen kompakten Eisblock eingefroren, aus dem man seinen Leichnam heraushacken mußte, wie den des Steinzeitmannes, den sie vor ein paar Jahren in den Alpen entdeckt hatten.
Irgendwie gab ihm diese absurde Vorstellung die Kraft, sich weiter das Ufer hinaufzuziehen und auf den Rücken zu wälzen. Salid war dabei nur auf die Kraft seiner Arme angewiesen. Seine Beine waren taub und gehorchten ihm nicht mehr.
Trotzdem explodierte ein entsetzlicher Schmerz in seiner Hüfte, als er sich herumdrehte. Salid keuchte, biß die Zähne zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, und sah an sich herab.
Der Morast neben seinem Bein hatte sich rosa gefärbt. Wo die aufgesetzte Jackentasche gewesen war, erblickte er nun ein zerfetztes Loch, unter dem rohes Fleisch sichtbar war. Im ersten Moment glaubte er, sich die Verletzung irgendwo im Fluß zugezogen zu haben, aber dann erinnerte er sich an den Schlag, der ihn aus dem Helikopter geworfen hatte. Eines der MG-Geschosse hatte ihn getroffen. Salid hatte es nicht einmal gespürt. Bisher.
Dafür machte sich die Wunde jetzt um so deutlicher bemerkbar. Und er wußte, daß das erst der Anfang war. Die Kälte betäubte seine Nerven, aber es war nur ein flüchtiger Aufschub, den er um so teurer würde bezahlen müssen. Die Wunde blutete nicht einmal sehr stark, aber Salid sah Knochensplitter hervortreten.
Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß es vorbei war. Selbst wenn er die nächste Stunde überlebte und selbst wenn er entkam – Salid wagte nicht zu schätzen, welche von beiden Möglichkeiten die unwahrscheinlichere war – , würde er nie wieder der sein, der er noch vor einer Stunde gewesen war. Er war schwer verletzt und würde nie wieder richtig gehen können. Sein Gesicht war verbrannt; Salid hatte genug Verbrennungen gesehen, um zu wissen, daß er deutliche Narben zurückbehalten würde. Welche Verletzungen er noch davongetragen hatte, wußte er nicht, aber er wußte, daß es welche gab. Im gleichen Maße, in dem die lähmende Kälte nachließ, meldeten sich die Schmerzen. Überall. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt noch bewegen konnte. Aus Abu el Mot, dem Vater des Todes, war Salid der Krüppel geworden, das Narbengesicht – in einem einzigen, unachtsamen Moment, wegen der Unerfahrenheit eines Piloten und seines eigenen Leichtsinns, nicht auf das ungute Gefühl gehört zu haben, das ihn warnte.
Jeder andere an seiner Stelle hätte jetzt vielleicht aufgegeben. Doch Salid empfand keine Verzweiflung, sondern eine tiefe, fast schon heitere Gelassenheit, die ihn mit Kraft aus einer neuen, bisher unbekannten Quelle versorgte. Er bildete sich nicht ein, noch irgend etwas gewinnen zu können. Er bildete sich nicht ein, überleben zu können. Abu el Mot hatte seinen letzten Kampf gekämpft und verloren. Er hatte als Krieger gelebt, und er war als Krieger gestorben.
Aber er wollte nicht, daß sie ihn so fanden; als zitterndes Bündel, das vielleicht schreien, vielleicht sogar um sein Leben betteln würde, wenn die Qual und die Furcht größer wurden. Wenn er sterben mußte, dann wie ein Mann: allein und ohne daß jemand seine Schreie hörte.
Mit zusammengebissenen Zähnen setzte Salid sich auf, kämpfte einen Moment gegen Übelkeit und Schwindel und stellte überrascht fest, wie leicht es ihm fiel. Es war, als schöpfe sein Körper jetzt, wo er nichts mehr zu verlieren hatte, noch einmal aus dem ganzen Reservoir der Lebenskraft, die noch für Jahrzehnte hätte ausreichen sollen.
Salid sah zum Kloster zurück. Das Gebäude war vollkommen zerstört. Seine Mauern standen noch, aber Salid hatte die Explosion gesehen, in der der Apache zerborsten war; was er erblickte, konnte nicht mehr als eine leere Hülle sein, eine geschwärzte Schale aus Stein, aus der alles Leben herausgebrannt worden war. Sämtliche Dächer waren eingestürzt und brannten. Die wenigen Fenster hatten sich in schwarzgeränderte Wunden verwandelt, aus denen Rauch, hier und da auch Flammen quollen, und der Himmel über dem Kloster reflektierte das blutigrote Licht der Glut, die noch immer in seinem Innenhof toben mußte. Salid schauderte leicht. Alle Munitions-und Treibstoffvorräte des Apache mußten auf einen Schlag explodiert sein, eine Sekunde nachdem die Maschine hinter den gewaltigen Mauern des Gebäudes verschwunden und wahrscheinlich noch bevor er auf dem Boden aufgeschlagen war. War es wirklich Zufall, dachte er, daß ihn nur eine einzige Sekunde vor dem sicheren Tod bewahrt hatte – nur damit er jetzt und auf qualvollere Weise starb?
Er vertrieb den Gedanken. Die Qual würde nicht mehr lange währen. Die Strömung hatte ihn an dem brennenden Gebäude und dem Wrack der Maschine vorbeigetragen, aber längst nicht so weit, wie er geglaubt hatte. Vielleicht dreißig Meter bis zum Tor, allerhöchstens vierzig bis zum Wrack des Choppers. Er mußte dorthin. Das Gewehr war ihm bei seinem Sturz aus den Händen gerissen worden und im Fluß versunken, aber er brauchte eine Waffe. Die Strecke war weit, aber er konnte es schaffen, selbst wenn er auf Händen und Knien kriechen mußte.
Sein erster Versuch endete mit einem Schmerzensschrei. Salid stürzte zurück in den Morast, kaum daß er auch nur versuchte, das verletzte Bein zu belasten. Es war, als würde ein rotglühender Speer durch seine Fußsohle hindurch und mit einem einzigen harten Ruck bis in die Schulter hinauf gerammt.
Der Schmerz war so schlimm, daß er sich zwei-, dreimal hintereinander übergab, ehe er schließlich doch in die gnädige Dunkelheit einer Ohnmacht floh, von der er wußte, daß ihr eine tiefere, endgültigere Dunkelheit folgen mußte.
FREI.
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