Die Ärzte hatten ihm alles erklärt. Brenner verstand durchaus, woher seine Angst kam – und damit die Träume, in denen sie sich Gestalt verschaffte – , und dieses Verstehen hätte ihm eigentlich helfen müssen, damit fertig zu werden. Zumindestnach Auffassung der Ärzte. Aber auch in diesem Punkt ähnelten sich die Wirklichkeit und die Visionen, die ihn seit drei Tagen quälten. So, wie ihm dort das Wissen, daß er träumte, nicht half, den Traum zu beenden, half ihm hier das Wissen um die Ursache seiner Angst kein bißchen, sie zu bekämpfen. Mit den Schmerze n wäre er fertig geworden. Mit der Dunkelheit nicht.
Brenner setzte sich sehr vorsichtig auf. Die Bewegung bereitete ihm trotzdem Schmerzen, aber er biß die Zähne zusammen und kämpfte sich tapfer in eine halb sitzende, halb auf den rechten Ellbogen gestützte Haltung hoch. Mehr ließen die Verbände und die zahllosen Nadeln, Schläuche, Kabel und Drähte nicht zu, die auf die eine oder andere Weise mit ihm verbunden waren und ihn fesselten wie eine untalentierte Raupe in einem begonnenen Kokon. Sein Rücken übrigens auch nicht. Eines der zahlreichen Wunder, denen er sein Überleben zu verdanken hatte, bestand darin, daß er sich – auch wieder nach Aussage der Arzte, die er aber mit jeder Schmerzexplosion, die durch sein Nervensystem tobte, mehr bezweifelte – keinen einzigen Knochen gebrochen hatte. Und das nach einemTreppensturz, um den ihn jeder Stuntman beneidet hätte, und der Kleinigkeit von einer Schußverletzung an der Schulter. Die Kehrseite der Medaille war, daß er sich jeden einzelnen Muskel im Leib geprellt und wahrscheinlich jede einzelne Sehne gezerrt hatte. Er war nicht etwa mit blauen Flecken und Blutergüssen übersät – sein ganzer Körper war ein einziger blauer Fleck.
Jedenfalls fühlte er sich so.
Brenner gab sich selbst ein paar Sekunden, um sich von der Anstrengung zu erholen, dann drehte er langsam den Kopf nach links; in die Richtung, in der das Fenster lag. Sehen konnte er es nicht. Wo es sein sollte, war nur ein etwas helleres Rechteck in dem allgegenwärtigen Grau, das ihn umgab. Der Anblick goß öl in die schwelende Glut, und für einen Moment drohte er in Panik zu geraten. Aber er kämpfte sie nieder wenigstens für den Augenblick. Panik brachte nichts ein; allerhöchstens eine weitere Spritze, die den Anteil von Blut in seinem Chemiehaushalt noch mehr verringern würde. Daß er das Fenster nicht sah, konnte an vielerlei Gründen liegen. Zum Beispiel daran, daß es draußen dunkel war oder die Jalousien heruntergelassen waren. Außerdem stimmte seine Beobachtung nicht ganz – er konnte das Fenster sehen. Gestern hatte es noch kein graues Rechteck dort drüben gegeben. Es war wohl so, wie die Ärzte sagten: Sein Sehvermögen kehrte zurück. Langsam, aber es kam zurück. Es würde noch ein paarTage dauern, vielleicht sogar eine oder zwei quälende Wochen, aber irgendwann würde er wieder ganz normal sehen können. Hoffentlich.
Er mußte mit seiner Bewegung wohl irgendeine Art von Alarm ausgelöst haben; denn schon nach wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet, etwas klickte, und einen Augenblick später wurde das Grau, in dem er schwamm, heller, wie Nebel, in dem sich rauchige Konturen bewegten.
»Was tun Sie denn da, in Gottes Namen, schon wieder? Sie sollen doch nicht aufstehen. Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Das war die Stimme der Nachtschwester. Er hatte sie bisher noch nie gesehen – wie auch? – , aber es war erstaunlich, wie schnell die übriggebliebenen Sinne die Funktionen eines verlorenen zu kompensieren begannen. Seit er aufgewacht war und nicht mehr sehen konnte, hörte und fühlte und roch er Dinge in einer Intensität, die er sich früher nicht einmal hatte vorstellen können.
Vor allem Schmerz.
»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete er. »Ich habe ein bißchen Mühe, die Uhr zu erkennen. Die Leuchtziffern scheinen irgendwie kaputtgegangen zu sein.«
»Sehr komisch«, sagte die Schwester. Sie kam mit schnellen, festen Schritten näher und drückte ihn mit keineswegs sanfter Gewalt in die Vertiefung zurück, die sein Kopf in das Kissen gegraben hatte. »Es ist kurz nach drei, wenn Sie es wissen wollen. Drei Uhr morgens. Warum schlafen Sie nicht ein bißchen?«
Brenner suchte nach einer ironischen Antwort, aber er fand keine. Er war müde, aber zugleich wußte er auch, daß er jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Mein Gott – war er wirklich erst drei Tage hier? Es kam ihm jetzt schon vor wie drei Monate.
»Es ist langweilig, nicht?« fragte die Schwester. Er war nicht sicher, ob er das Mitgefühl in ihrer Stimme nun hörte, weil es wirklich da war, oder nur, weil er es hören wollte. »Ich kann das verstehen. Manchmal geht selbst für mich die Zeit nicht um. Es ist schlimm, wenn man nichts sieht. Man kann nicht lesen, nicht fernsehen … «
»Sie könnten mir wenigstens ein Radio bringen«, sagte Brenner.
»Was haben Sie gegen unser Krankenhausprogramm?« »Nichts« , maulte Brenner. »Ich kann es inzwischen schon mitsingen.«
Entweder fand sie das nicht sehr komisch, oder sie brauchte ein paar Sekunden, um den Scherz zu kapieren. Sie lachte; allerdings mit Verspätung und nicht sehr echt. »Es tut mir wirklich leid, aber die Technik ist eben gegen uns. Unser Kabelanschluß ist leider immer noch nicht repariert.«
»Und wie wäre es mit einem Kofferradio?« fragte Brenner. »Ein kleines, billiges Gerät mit einer Antenne? Sie wissen schon: diese Dinge, die man herausziehen kann und die dauernd abbrechen?«
»Die Verwaltung gestattet leider keine privaten Geräte«, antwortete die Schwester. »Außerdem hätten Sie nicht viel davon. Wir liegen hier in einer Art Funkloch. Sie würden nur Störungen empfangen.«
»Ich liebe Störungen«, sagte Brenner. Er starrte feindselig zu dem weißen Fleck hoch, der da war, wo eigentlich ihr Gesicht sein sollte. Er fragte sich, wie alt die Schwester war. Sie hatte eine junge Stimme, aber ihre Schritte waren zu fest für eine noch sehr junge Frau, und das, was sie mit und an ihm tat, war zu routiniert. Andererseits hatte sie sehr weiche Hände. »Irgendwo im Schrank muß meine Brieftasche liegen«, fuhr er fort. »Ich schreibe Ihnen einen Scheck aus, und Sie gehen
und kaufen ein Radiogerät, einverstanden?«
»Aber ich habe Ihnen doch gerade gesagt – «
»Ich weiß«, unterbrach sie Brenner. »Aber im Ernst – ich höre gerne Störungen. Vor allem in Stereo!«
Auch jetzt dauerte es wieder Sekunden, ehe sie antwortete; und auch jetzt wieder in leicht verändertemTon. Noch vor drei Tagen hätte er es nicht geglaubt, hätte ihm jemand erzählt, daß es überhaupt möglich war, aber er konnte ihr Lächeln tatsächlich hören.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber wissen Sie was? Bisher ist es eine ziemlich ruhige Nacht. Ich muß mich noch um zwei andere Patienten kümmern, aber wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert, könnte ich später wiederkommen und Ihnen ein bißchen Gesellschaft leisten. Ich könnte Ihnen etwas vorlesen.«
»Aus derTageszeitung?«
»Ich fürchte, ich habe keine. Politik interessiert mich nicht. Was halten Sie von der Bibel?«
Brenner ließ absichtlich einige Sekunden verstreichen, ehe er antwortete. Er hatte sich Zeit seines Lebens nie für Religion interessiert und für die Bibel schon gar nicht. Aber er spürte die gute Absicht hinter ihrer Frage und wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, und so verzichtete er auf die spöttische Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Statt dessen sagte er: »Im Moment ist mir eher nach etwas … weniger Schwerem zumute.«
»Ich besitze eine Taschenbuchausgabe«, antwortete die Schwester. »Sie wiegt kaum etwas.«
Brenner lachte. »Jedenfalls danke für den Vorschlag. Vielleicht komme ich später darauf zurück. Im Moment … vielleicht werde ich jetzt doch noch versuchen, ein bißchen zu schlafen. «
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